Mutismus - wenn Kinder schweigen
Mutismus ist kein bloßes Schweigen, sondern Ausdruck innerer Ängste oder Traumata – und kann mit Geduld, Verständnis und gezielter Therapie überwunden werden.
Linas Geschichte: Ein Kind verstummt
Lina war sechs Jahre alt. Sie lebte in einer liebvollen Großfamilie in Ungarn. Kurz vor ihrer Einschulung übersiedelten ihre Eltern mit den beiden Kindern nach Tirol, da der Vater dort eine Arbeitsstelle angenommen hatte. Lina war zweisprachig aufgewachsen. Aufgrund der deutschen Vorfahren, sprach man in ihrer Familie neben Ungarisch zudem fließend Deutsch.
Lina wollte nicht übersiedeln.
Sie erklärte immer wieder, dass sie ihre Großeltern, die Freundinnen und Verwandten in Ungarn nicht verlassen wollte. Die Eltern redeten ihr gut zu, versicherten ihr, dass die Großeltern, die ihr unglaublich viel bedeuteten, einmal im Monat für eine Woche nach Tirol kommen würden. Es würde bestimmt alles gut werden.
Von dem Tag an, an dem die Übersiedelung stattgefunden hatte, verstummte Lina. Sie sprach kein einziges Wort mehr. Man konnte sich nur noch über Gesten mit ihr verständigen. Weder in der Schule – sie trat in die erste Klasse ein – noch am Spielplatz mit anderen Kindern, noch zu Hause, auch nicht beim Arzt.
Lina war sprachlos und ihre Eltern waren verzweifelt.
Nicht einmal die monatlichen Besuche der Großeltern konnten sie dazu bewegen, ihre Gefühle kund zu tun, auch nicht der Besuch bei einer Kinderpsychologin. Lina blieb stumm.
Die Familie lebte für ein Jahr in Österreich und übersiedelte dann, da die Situation für alle unerträglich wurde, wieder zurück nach Ungarn. Nach ungefähr einem halben Jahr zurück in der gewohnten Umgebung, im Herzen der Großfamilie, begann Lina langsam wieder zu sprechen. Zuerst mit den Großeltern, dann mit den Klassenkameraden und nach längerer Zeit mit den Eltern.
Mutismus - mehr als Sprachlosigkeit
Im Fall von Lina spricht die Psychologie von Mutismus. Dabei handelt es sich um eine ernstzunehmende, komplexe Kommunikationsstörung, die durch das anhaltende Schweigen gekennzeichnet ist.
Man unterscheidet zwei Hauptformen des Mutismus:
#1. Selektiver Mutismus
Der selektiven Mutismus ist auf bestimmte Situationen begrenzt. So kann es beispielsweise sein, dass Kinder zu Hause sprechen, in der Schule, im Kindergarten, oder unter anderen, weniger bekannten Personen, aber noch nie ein einziges Wort geäußert haben.
Es handelt sich dabei um keine reine Sprachstörung, sondern um eine besondere Form der Angststörung, bei welcher psychische, soziale und entwicklungsbedingte Faktoren eine wichtige Rolle spielen.
#2. Totaler Mutismus
Der totale Mutismus beschreibt das Schweigen in allen Lebenssituationen, so wie im Beispiel von Lina, oben beschrieben. Er ist meist die Folge von traumatischen Erlebnissen, oder begleitet schwere psychische Erkrankungen. Er kann in jedem Lebensalter auftreten.
Bei Lina war es wahrscheinlich der Umzug, die Auflösung der Großfamilie und die neue, kulturell andere Umgebung, die das Schweigen in ihr hervorgerufen haben. Sie hat diese veränderte Lebenssituation subjektiv als traumatisch und überwältigend erlebt.
Merkmale des selektiven Mutismus:
- Anhaltendes Schweigen in bestimmten Situationen, während in anderen Situationen gesprochen wird. (Beim totalen Mutismus schweigt die Person in jeder Lebenssituation)
- Beeinträchtigung des schulischen und sozialen Lebens
- Massiver Leidensdruck für den Betroffenen und dessen nächsten Angehörigen
- Das Schweigen kann nicht auf einen Mangel der Sprachkenntnis zurückgeführt werden, es gibt keinen organischen Befund für das Nichtsprechen
Was tun, wenn ein Kind davon betroffen ist?
Therapien des Mutismus werden meist langfristig angelegt und erfordern ein individuelles, multimodales Behandlungskonzept. Es werden meist psychologische, psychotherapeutische, pädagogische und bei Bedarf, sprachtherapeutische Methoden kombiniert.
#1. Verhaltenstherapie
Bewährt hat sich zum Beispiel die Anwendung der kognitiven Verhaltenstherapie, mittels welcher speziell bei selektivem Mutismus, der häufig auf einer Angststörung gründet, an der Angst gearbeitet wird, die nicht selten mit dem Sprechen vor/oder mit anderen zu tun hat.
#2. Elternberatung
Im Rahmen einer Elternberatung erhalten Eltern Anregungen und Unterstützung darin, wie sie ihre Kinder begleiten und unterstützen können, um mit möglichst wenig Druck, das Schweigen schrittweise auflösen zu können.
#3. Kooperation
Die Zusammenarbeit mit LehrerInnen und KindergartenpädagogInnen ist essentiell, da schweigende Kinder sehr häufig Opfer von Mobbing in Gruppen werden. Dabei ist es wichtig, sehr aufmerksam auf bestimmte gruppendynamische Tendenzen zu achten.
#4. positives Schulklima
Die Schaffung eines unterstützenden, nicht wertenden und stressfreien Klassenklimas wirkt sich meist positiv auf die Auflösung des Schweigens aus.
Geduld und Empathie
Mutismus ist nie ein stures nicht reden Wollen der Kinder.
Durch Zwang und Druck verstärkt sich das Schweigen.
Es sollte bewusst auf die Stärkung des Selbstwertes und des Gefühls der Selbstwirksamkeit geachtet werden, um dem Kind zu vermitteln, dass es genau so, wie es ist, gut ist.
Die Symptome des Mutismus sind zwar eine Herausforderung sind, aber es ist möglich, damit zu leben und die Situation gemeinsam zu verbessern.
Daher ist ein geduldiger, sensibler Umgang mit den betroffenen Kindern und deren Familien die Grundlage dafür, dass sie sich stark genüg fühlen und das Schweigen allmählich aufzulösen beginnen.