Late Talker Kinder ohne Druck unterstützen - Liebevolle Förderung bei verzögerter Sprachentwicklung
„Regina, hast du deine Hörgeräte eingeschaltet?“ Was ich als Jugendliche am meisten hasste, war diese Frage meiner Hauptschullehrerin. Gut gemeint stellte mich diese Erinnerung oder gar Ausbesserungen meiner Aussprache - vor der gesamten Klasse laut ausgesprochen - direkt ins Aus. Mit siebzehn Jahren beschloss ich nie wieder Hörgeräte und logopädischen Unterricht zu nehmen. Für diesen Online-Beitrag wagte ich mich zurück in die Höhle des Löwen und war angenehm überrascht, wie viel sich in der Logopädie zum Positiven verändert hat.
Viele Eltern fragen sich, wie sie mit einer sprachlichen Verzögerung ihres Kindes im Alltag umgehen sollen. Ohne in die oben genannte negative Rolle zu fallen. „Ein sehr großes Thema für Eltern von Kleinkindern mit verzögerter Sprachentwicklung ist der Wunsch, ihre Kinder optimal zu fördern und dennoch in der liebevollen Eltern-Kind-Beziehung zu bleiben“, bestätigt Logopädin Susanne Kotschnig im Gespräch.
Gut gemeinte, aber kontraproduktive Tipps vom wohlmeinenden Umfeld gibt es in Hülle und Fülle.
„Du musst mehr mit dem Kind sprechen“. „Du musst ihm mehr vorlesen.“ „Du darfst nicht gleich reagieren, das Kind ist einfach nur faul.“
Doch „Late Talker Kinder“ haben meist eine andere, langsamere Sprachverarbeitung. Still sitzen und einem Buch lauschen ist da nicht immer möglich. Auch das beliebte "Sag mal Hund!“, „Sag mal Auto!", funktioniert oft nicht. Diese Tipps kann man getrost weglassen und durch passende Anregungen ersetzen, die keinen Druck auf das Kind ausüben.
Wie erkenne ich eine Sprachverzögerung?
Vom „Late Talker Profil“ sprechen wir, wenn ein zweijähriges Kind noch keine 50 Wörter spricht und auch keine Kombinationen mit Wörtern bildet. Wobei neben ganzen Benennungen, wie z. B „Mama“ oder „Auto“ sowohl Lautmalereien wie „wa-wa“ für Hund als auch unvollständige Begriffe wie „Nane“ statt Banane sowie Gesten, wie sie in der Baby-Zeichen-Sprache üblich sind, als Wort zählen. Sobald ein Kind immer die gleiche Bezeichnung für einen Gegenstand, eine Person oder ein Tier verwendet, gilt dies als Wort.
Bei Sorgen um die sprachliche Entwicklung oder nur einem unguten Bauchgefühl rät Kotschnig, sich auf jeden Fall eine Einschätzung von einer Logopädin/einem Logopäden zu holen. Mit 2 Jahren ist das Kind nicht zu jung dafür, wie fälschlicherweise oft behauptet wird. Im Gegenteil, lieber früh intervenieren, als Zeit zu verlieren und erst mit 4 Jahren einen Logopädie-Platz zu suchen. Denn das altbekannte „Das wächst sich aus“ entspricht beim Großteil der betroffenen Kinder leider nicht der Wahrheit, wie Studien zeigen. Kinder beginnen mit circa 6 bis 9 Monaten melodisch zu plaudern, indem sie Silben wiederholen, wie z. B. „bababa“ oder „dadada“. „Sind Kinder in diesem Alter sehr still und plaudern gar nicht, kann dies ein erster Hinweis darauf sein, dass man hier genauer hinschauen sollte.“, so Kotschnig.
Sprachentwicklung
Mit circa 9 bis 10 Monate geschieht ein Entwicklungsschritt, der mit aktiv gesprochener Sprache scheinbar wenig zu tun hat und dennoch die Basis für die weitere Sprachentwicklung ist. In diesem Alter erkennt das Kind, dass es einen Zusammenhang zwischen einem Gegenstand und einem Wort gibt.
Ein Kind mit 6 Monaten beschäftigt sich mit einem Gegenstand und plaudert ein bisschen dazu. Kommt dann eine Person ins Gesichtsfeld, schaut das Kind sofort diese Person an und das Objekt verliert an Interesse. Hier sprechen wir von einer Dyade, einer Zweierbeziehung. Das Kind kann seine Aufmerksamkeit entweder auf eine Tätigkeit oder auf eine Person richten, erklärt Kotschnig. Das ändert sich mit 9 bis 12 Monaten.
Stellen wir uns nun vor, das 11 Monate alte Kind nimmt die Rassel wieder in die Hand und diese fällt zu Boden. Das Kind sieht sein Gegenüber an und weiß aus Erfahrung, dass seine Bezugsperson in dieser Situation meist etwas sagt. Wie zum Beispiel, „Oh, ist dir die Rassel hinuntergefallen! Ich hebe sie dir wieder auf.“ Die Erkenntnis, dass das Wort Rassel mit dem Gegenstand zusammenhängt, erweitert die Dyade auf eine Triade, erklärt Kotschnig.
Die Entdeckung von Sprache, Sprachentwicklung, das Verstehen und Lernen bestimmter Wörter geschieht in der Beziehung. Aus der Zweierbeziehung ICH und DU (Dyade) wird eine Triade (ICH, DU und der GEGENSTAND – unser gemeinsames Thema). Wir, ich und du sprechen gemeinsam über etwas, über einen Gegenstand oder ein Thema. Das ist ein ganz wichtiger Meilenstein, wir nennen das in der Fachsprache „triangulieren oder den „triangulären Blickkontakt oder eine Triade herstellen“.
Was die Triade ermöglicht, ist die „gemeinsame Aufmerksamkeit“. Dieser erwartungsvolle Blick eines Kindes, wenn es dich und dann den Gegenstand ansieht, stellt die gemeinsame Aufmerksamkeit her. Dahinter steckt die Erkenntnis „Das, was ich gesehen habe, hast auch du gesehen – und was du gleich sagst, hat damit zu tun“. Dies ist ein kognitiv emotionaler Entwicklungsschritt, den Kinder am Ende des 1. Lebensjahres vollziehen. Erst darauf folgt die Erkenntnis „dieser Gegenstand wird Rassel benannt“.
Ein Erfolgserlebnis aus der Praxis:
Leo (24 Monate alt) darf die Katze der Nachbarin streicheln. Die alte Dame erklärt geduldig: „Ja, das ist die Momo. Die Momo ist ganz weich, die Momo macht miau. Die Momo hat Ohren. Miau macht die Momo.“ Leos Papa wiederholt: „Oh, Momo, ein schöner Name! Sie macht miau, die Momo.“ Plötzlich sagt Leo: „Momo!“ Die Eltern sind begeistert! Denn Leo hat noch nie Momo gesagt und überhaupt spricht er erst ungefähr 30 Wörter! Was hier zum sprachlichen Erfolg führte, war der hohe Input des Wortes Momo (7x), die emotionale Beteiligung des Kindes und der Umstand, dass es sich um eine Silbenverdopplung handelt. Also leicht zu artikulieren ist, erklärt Kotschnig eine wahre Geschichte, die sie von Eltern erzählt bekam. (Name, Alter und Tier wurden zum Schutz des Kindes verändert.)

5 Tipps für eine liebevolle Förderung im Alltag
1. Gemeinsame Aufmerksamkeit herstellen
Stellen Sie sich vor, ihr Kind schiebt sein Holz-Auto auf dem Teppich an, während Sie daneben sitzen. Im nächsten Moment hält das Kind inne, schaut sie an und gibt ihnen das Auto. Mit der stillen Aufforderung, dass sie das Auto anschieben sollen. Sie schauen zuerst ihr Kind und anschließend das Auto an, bevor sie dieses in die Hand nehmen und kommentieren „Oh, du gibst mir das Auto!“.
Dieser im Alltag unzählige Male vorkommende Augenblick erscheint uns selbstverständlich, ist jedoch unendlich kostbar für die Sprachentwicklung. Denn nur in der Beziehung zu ihnen lernt das Kind spielerisch Neues dazu. Hier können sie „gemeinsame Aufmerksamkeit“ herstellen, indem sie ein paar Sekunden abwarten, das Auto nehmen, ihr Kind anschauen, das Auto anschauen und dies benennen. Dieser gemeinsame Moment, das Abwarten, wann echtes Interesse vom Kind kommt, anstatt Dinge vorzugeben, ist das Kostbarste, was sie ihrem Kind schenken können.
Es geht um Qualität statt Quantität. Allein ein paar solch bewusster Situationen am Tag sind eine hochwertigere Förderung als stundenlanges Vorlesen oder gemeinsame Sprachspiele, die das Kind nur überfordern.
2. Auf die momentane Situation des Kindes eingehen
Wenn Kinder zum ersten Mal sprachlich mit einem Ausdruck reagieren, sind Eltern von Kindern mit Sprachverzögerungen verständlicherweise begeistert. Und möchten diese Situationen so oft wie möglich wiederholen. Wichtig ist hier dennoch, sich auf den gegenwärtigen Moment des Kindes einzulassen. Spielt ein Kind gerade vertieft mit einer Puppe, wird es wahrscheinlich nicht reagieren, wenn wir es fragen, wie gestern die Katze gemacht hat. Auch wenn wir das „Miau“ vom Kind so gerne noch einmal hören würden. Denn sein Fokus liegt in diesem Moment auf der Puppe. Eine gute Alternative wäre hier, sich zum Kind zu setzen, abzuwarten, was das Kind mit der Puppe tut und darauf einzugehen. Das Spiel zu kommentieren und sich vom Kind zeigen zu lassen, wo sein Interesse gerade liegt. Sprachlich genauso wie im gemeinsamen Spiel.
3. Dem Kind die Initiative überlassen
Sehen Sie sich gemeinsam mit ihrem Kind ein Bilderbuch an, hilft es, das Kind zu beobachten, welche Szene im Buch es interessiert, worauf es deutet und darüber zu kommunizieren. Dem Kind die Führung zu überlassen, was es ansehen oder vorgelesen haben möchte. Zeigt es zum Beispiel auf den Traktor, ist das der richtige Moment, um über den Traktor zu sprechen. Wie zum Beispiel, „Ja, der Traktor. Den Traktor haben wir im Urlaub gesehen. Der Traktor war laut.“.
4. Offene Fragen stellen
Um zu vermeiden, dass sich Kinder unter Druck gesetzt fühlen und mit sprachlichem Rückzug reagieren, rät Kotschnig davon ab, Kinder abzufragen, um Wörter hervorzulocken. Stellen wir also Fragen lieber dann, wenn sie im Dialog sinnvoll sind. Dabei dürfen Eltern ruhig mit der schwierigsten Art von Fragen beginnen: mit der offenen Frage oder der W-Frage. „Wo ist denn der Schuh?“ „Wer soll die Katze füttern?“ „Was möchtest du trinken?“ Kommt keine Antwort, können wir dem Kind mit einer Alternativfrage entgegenkommen: „Möchtest du Saft oder Kakao?“. Sind die Schuhe oben oder unten? Kommt immer noch keine Reaktion, sind auch „JA oder NEIN Fragen“ erlaubt. „Möchtest Du Kakao?“. „Ah, die Schuhe sind unten, oder?“.
5. Geduld haben
Ihr Kind zeigt immer nur auf die gleichen drei Dinge im Buch? Wie z. B. auf eine Katze, ein Auto und eine Puppe. Bitte nicht verzweifeln – das ist super, dann interessiert sich gerade sehr dafür. Es wiederholt und übt dadurch gerade diese drei Begriffe, möchte Kotschnig Eltern ermutigen. Steigen Sie darauf ein. Bestärken Sie es mit Sätzen wie, „Die Katze ist bestimmt schön weich.“. Oder „Die Katze trinkt Milch. Du hast heute auch Milch getrunken.“ Oder „Du hast die Katze gestreichelt.“, wenn sie dem Kind über die Haare streichen.
Medientipps zum Thema:
Podcasts zum Thema „Later-Talker-Kinder“:
#35 Late Talker, Sprachentwicklungsverzögerung- Interview mit Patricia von Sprachgold
Der Kinderleibundseele Podcast mit Dr. Nikola Klün | Podcast on Spotify
Buchempfehlungen:
- Sprachsalat im Regenwald: Spielerisch sprechen lernen!
Ein interaktives Mitmachbuch zur Sprachförderung ab 2 Jahren, mit Logopädie-Übungen & Fördertipps von der Logopädin Christina Schneider für mehr Sprechfreude im Alltag. Erschienen im Falabella Verlag. - Late Talker. Späte Sprecher - Wenn zweijährige Kinder noch nicht sprechen
Ratgeber von Claudia Hachul Melanie Bauckmann für Angehörige, Betroffene und Fachleute.
Erschienen im Schulz-Kirchner Verlag.
Kontak:
Susanne Kotschnig
Praxisleitung | Logopädin | Theaterpädagogin BuT | Trainerin für Erwachsenenbildung Zentrum am Flö - für Sprache,
Ausdruck und starke Kinder Flötzersteig 222/20/R1 1140 Wien
Telefonnummer: 0670 351 8212
Webseite: www.zentrumamfloe.com
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