Kindliche Förderung: Warum die Panik der Eltern verständlich ist

Förderung ist kein falsches Konzept, wird aber oft falsch verstanden. Denn Eltern machen sich selbst zu viel Druck und fördern dadurch nicht richtig. Im zweiten Teil der Reihe von Herbert Renz-Polster geht es um die Panik der Eltern und warum diese verständlich ist.

Warum das Panik-Konzept verständlich ist

Der Druck in Sachen Bildung hat zugenommen. Wer in einer Wirtschaft punkten will, die sich im globalisierten Wettbewerb vor allem durch die Verwertung von Hochtechnologie und Wissen behauptet, muss durch ein Nadelöhr immer komplexerer Spezialisierungen –  ein solider Fundus an Bildung ist da bestimmt kein Luxus. Gleichzeitig werden die prekären Ränder der Gesellschaft immer größer – so mancher Arbeitsplatz sichert kaum mehr das Existenzminimum. Wen wundert da, wenn die Eltern für ihre Kinder die Flucht nach vorn als Devise ausgeben?

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Die Sorge der Eltern ist auch aus einem zweiten Grund verständlich. Seit vielen Jahren ist bekannt, dass kleine Kinder gerade auf dem Gebiet der Sprachentwicklung wahre Wunder vollbringen. Sie können problemlos und akzentfrei eine Zweitsprache erlernen - was jeder bestätigen kann, der mit einem kleinen Kind in einen anderen Sprachraum umzieht. Diese Fähigkeit verlieren Kinder etwa im Alter von 6-10 Jahren – das Lernen von Sprachen wird jetzt immer mühseliger, weil die Kinder nun nicht mehr ihr intuitiv-synthetisches Lernprogramm nutzen können, sondern nach und nach auf das kognitiv-analytische Programm des Erwachsenengehirns ausweichen müssen – sie lernen jetzt Wort für Wort, Fall für Fall, alles im Schweiße ihres Angesichts.

Frühförderung nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen.

Das spricht für eine Art „sensibler Periode“, in der das kleine Gehirn besonders aufnahmefähig für neue Sprachen ist. Seit dieser Beobachtung haben Eltern gehörige Angst vor Lernfenstern, die sich vor der Nase ihrer Kinder unwiederbringlich schließen. Sie vertrauen auf das Prinzip der FRÜHFÖRDERUNG. Und fragen besorgt in Kindergärten, ob die Kinder dort denn auch Englisch lernen können.

Warum das Panik-Konzept dennoch falsch ist

Trotzdem spricht alles für Gelassenheit – und vor allem: für einen neuen Förderbegriff. Nehmen wir gleich die Sprachentwicklung. Hier zeigt sich, dass der intuitive Sprach-Lern-Motor nicht ganz so einfach in Schwung zu bringen ist. Kleine Kinder werden in Fremdsprachen nämlich nur unter ganz speziellen Bedingungen vollständig sprachkompetent. Dann nämlich, wenn die Sprache

  • sehr häufig und regelmäßig und
  • von einer emotional zugewandten Bezugsperson
  • im normalen Lebenskontext (für Kinder ist das vor allem das Spiel) und
  • in muttersprachlicher Sicherheit gesprochen wird.

 

Kein Wunder, dass das Fremdsprachen-Lernen vor allem dann funktioniert, wenn Kinder die Fremdsprache über einen fremdsprachigen Elternteil oder fremdsprachige Spielgefährten lernen. Die Hoffnung, mit ein paar Brocken Englisch im morgendlichen Stuhlkreis im Kindergarten die Kinder auf diesen Weg zu bringen, ist leider unbegründet. Kinder können ihr Lernpotenzial nur nutzen, wenn sie in die Sprache sozial und emotional EINTAUCHEN können.

Kinder lernen im Morgenkreis im Kindergarten leider keine Fremdsprache intuitiv und selbstverständlich.

Das Beispiel des Sprachenlernens verweist auf ein interessantes Prinzip des kindlichen Lernens: dass für grundlegende Entwicklungsaufgaben nämlich nicht das „Programm“ zählt, sondern dass das Kind hier mit seiner eigenen intuitiven Lernkompetenz am Zug ist. Dass ein Kind unter den skizzierten Bedingungen sprechen lernt (ob eine Mutterspache oder eine Fremdsprache), ist nicht Resultat großer erzieherischer Anstrengung, es ist UNVERMEIDLICH.

Weder müssen hier die Eltern besondere didaktische Tricks anwenden (etwa häufige Wiederholungen oder besondere Erklärungen) noch müssen sie sich überhaupt in dieser Sache als führend verstehen – das Kind WILL das aus sich heraus und es hat alle Mittel an Bord. Das erklärt, warum auch Kinder in den Kulturen der Erde, die wenig Wert auf spezielle sprachliche Stimulierung ihrer Babys und Kleinkinder legen (und das sind die meisten Kulturen dieser Erde) komplett und vollständig sprechen lernen (Fremdsprachen inklusive, wenn eine solche Konstellation vorliegt).

Kind sehr müde wegen zu viel lernen

Die zwei Domänen des Lernens

Heißt das, dass alles im Kind schon drin ist, dass Eltern ihre Kinder gar nicht „fördern“ können? Bevor wir uns hier festlegen, betrachten wir kurz das kindliche Lernen aus der Vogelperspektive.

Bei ihrer  Entwicklung haben Kinder zwei Lernaufgaben: sie müssen einerseits das lernen, was ALLE Menschen für ihr Leben brauchen, egal ob sie in Honolulu oder in Hamburg aufwachsen. Andererseits müssen sie aber auch Kompetenzen entwickeln, die ihnen in ihrem SPEZIELLEN FALL, also hier und jetzt und als einzigartige Person bei der Lebensgestaltung helfen.

Was müssen ALLE Kinder lernen?

Schauen wir zuerst auf das, was  ALLE Kinder lernen müssen, egal wo sie leben und egal was sie später einmal besonders gut können müssen – auf das Grundrepertoire des menschlichen Lebens sozusagen. ALLE Kinder rund um den Globus müssen lernen mit sich und ihren Emotionen klar zu kommen, sie müssen kommunizieren lernen, sie müssen mit den anderen klarkommen, sie müssen sich körperlich entwickeln, sitzen, krabbeln, laufen lernen und und und...

Alle Kinder benötigen Grundkompetenzen.

Der Erwerb dieser kulturübergreifenden Grundkompetenzen ist integraler Teil des normalen Entwicklungswegs, er „passiert“ einfach - und zwar ohne dass das Kind dazu speziell motiviert oder unterrichtet werden müssten. Das „Normalprogramm“ des Lebens ist für den Erwerb dieser Kompetenzen ausreichend.

Tatsächlich sind die Kinder von Natur aus darauf angelegt, aus ihrer alltäglichen Umwelt all die Erfahrungen zu extrahieren, die sie für den Aufbau dieser Fundamentalkompetenzen brauchen – sie saugen sich tagtäglich damit voll wie ein Schwamm - und zwar aus sich heraus, ohne spezielle Förderung. Es braucht dazu nur eines: eine normale, „artgerechte“ Umwelt.

Diese ins normale Leben eingebaute Förderung bedeutet, dass Kinder von Anfang an mit dem ausgestattet sind, was es braucht, um sich unter normalen Bedingungen zu kompetenten Erwachsenen zu entwickeln. Dieses sparsame Prinzip macht aus Sicht der Evolution erheblichen Sinn: wo wäre die Menschheit heute, wenn die für die „Fitness“ der Menschen wichtigen Kompetenzen von ausgefeilten Fördermaßnahmen, einem luxuriösen Engagement anderer Menschen oder besonders günstigen Lebensumständen abhängig wären?

Artgerechte Entwicklungserfahrungen

Kinder brauchen auf ihrem Entwicklungsweg bestimmte Erfahrungen, die ihnen den intuitiven Aufbau ihrer Grundkompetenzen ermöglichen – weil sie nur so ungehindert LERNEN können. Worin besteht dieses eigenförderliche Umfeld?

Erstens: sichere Bindung.

Nur wo Säuglinge und kleine Kinder in einem emotional sichernden Stil versorgt werden, entwickeln sie ihr Urvertrauen. Und darauf baut wiederum ihr Erforschungsmut auf: sicher gebundene Kinder dringen tiefer in ihre Umwelt ein und versorgen sich  damit eigenständig mit immer neuem Lernstoff (Prinzip der Selbstwirksamkeit). Dieses Beziehungs- und Bindungssystem sieht in jeder Kultur und in jeder Familie anders aus, immer aber sind die sichernden Zutaten dieselben: emotionale und auch körperliche Nähe, Verlässlichkeit und Feinfühligkeit der betreuenden Person(en).

Zweitens: andere Kinder.

Homo sapiens ist kein Einzelgänger sondern ein Gruppenwesen. Die Fähigkeiten für diesen sozialen Lebensstil erwirbt er nicht nur von den Erwachsenen - sondern als Kind von anderen Kindern. Empathie, Fairness und die Fähigkeit in einer Gruppe klar zu kommen entstehen ganz stark im sozialen Quirl der Kindergruppe – vor allem im Spiel mit Kindern auf unterschiedlichem Entwicklungsstand!

Drittens: Unterstützung durch den „Stamm“.

Menschen sind evolutionär gesehen auf ein gemeinschaftliches Aufziehen ihres Nachwuchses angelegt - Kinder gedeihen dort am besten, wo Helfer mit anpacken. Die Eltern sind wichtig, aber sie können es nur schaffen, wenn ihnen andere vertraute Menschen den Rücken stärken. Je reichhaltiger dieses sichernde Netz, desto besser für die Entwicklung der Kleinen!

Viertens: Freiheit.

Um in ihr – sehr unterschiedliches - kulturelles Umfeld hineinzuwachsen und um ihre – sehr unterschiedlichen – individuellen Potenziale ausschöpfen zu können, brauchen Kinder eine ganz besondere Möglichkeit: nämlich nach einem eigenen Plan zu lernen. Sie müssen sich deshalb eine eigene, passende Umwelt schaffen können! Das gelingt am Besten im selbst bestimmten, freien Spiel. Hier schaffen Kinder sich ihre Wunsch-Welten, hier werden sie kreativ, hier versorgen sie sich mit einem auf sie selbst abgestimmten Input. Kurz: ein Homo sapiens-Kind braucht Spielraum!

Fünftens: eine Welt im Gleichgewicht.

Im Laufe der Kindheit entwickeln Kinder ein inneres Bild von der Welt in der sie leben – sie erzählen sich selbst eine „Geschichte“. Sind die Menschen, die darin vorkommen meine Freunde? Mitspieler? Oder Gegenspieler? Muss ich mich tagtäglich beweisen oder kann ich mich auch auf andere verlassen? Ist die Welt ein Ort der mir etwas gibt oder bedroht sie mich? Die Antworten darauf erwachsen zum einen aus frühen Bindungserfahrungen, schöpfen sich aber auch aus dem Alltag hier und jetzt, und damit aus dem Zustand der Gesellschaft, in der ein Kind aufwächst. Kinder brauchen Frieden, Stabilität und Hoffnung. Und sie brauchen neben dem „Ich“ ein schützendes „Wir“. Ein solches Gleichgewicht verleiht Flügel!

Neben dem „Grundrepertoire“ müssen Kinder aber auch spezielle Kompetenzen und Wissensinhalte erwerben, die ihnen helfen, die Herausforderungen ihres besonderen, von Kultur zu Kultur, von Generation zu Generation, von sozialer Schicht zu sozialer Schicht unterschiedlichen Lebens zu meistern.

Wie das funktioniert, erklärt Dr. Herbert Renz-Polster in seinem nächsten Teil der Reihe Kindliche Förderung. 

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Portraitfoto Herbert Renz-Polster

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