Geschwisterkonflikte begleiten: Was Eltern tun können, wenn Kinder streiten

„Kinder tun nichts, um uns zu ärgern“, schreibt Nicola Schmidt in ihrem Buch Geschwister als Team auf die Frage hin, wieso gerade Geschwisterkinder so ausgiebig miteinander streiten. „Sie tun es, weil ihr Gehirn (...) noch nicht fertig ist, sondern erst noch wachsen, reifen und trainieren muss.“

Kinder können sich tatsächlich erst ab etwa 4 Jahren in andere Menschen hineinversetzen. Und selbst dann dauert es noch bis ins Schulalter, bis ihre Empathie wirklich gut entwickelt ist.

Ähnlich verhält es sich mit der Impuls-, der Handlungskontrolle, dem logischen Denken, der Frustrationstoleranz (ein Nein des anderen gut aushalten können) und der Bedürfnisaufschiebung. Und denken wir einmal an die sprachlichen Voraussetzungen, die es braucht, um einen Konflikt verbal zu lösen. Und wie schwer das schon uns Erwachsenen oft fällt!

Ein 3-, 4- oder 5-jähriges Kind kann, vor allem in Konfliktsituationen, somit noch nicht empathisch, einfühlsam, vernünftig, lösungsorientiert und verständnisvoll agieren. Es muss und darf all diese Dinge erst lernen.

Und selbst danach, im Schulalter, gilt für Kinder immer noch das Prinzip Emotion vor Kognition: die Teile in ihrem Gehirn, die für Emotionen und Impulshandlungen zuständig sind, sind viel aktiver sind als jene, die das rationale Denken bereitstellen.

Konflikte und Streit unter Geschwistern sind daher vollkommen normal.

Und darüber hinaus sogar sehr sinnvoll. Durch diese Konflikte finden Kinder heraus, wie man gut miteinander spielt, wo die Grenzen des oder der anderen sind, wie man teilt und wie man Kompromisse, Konsense und Lösungen findet, die für alle okay sind. Sie lernen etwas über Gerechtigkeit. Über ihre Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer.

So ist es von großem Wert für Kinder, wenn sie all dies in einem sicheren Rahmen ausprobieren und üben dürfen, getragen von einer starken Bindung, die nicht so einfach durch einen Streit zu erschüttern ist.

Diesen Prozess des sozialen Lernens im Konflikt können wir Eltern durch unsere Vorbildwirkung und unser Handeln aktiv beeinflussen und begleiten, indem wir die elterliche Führung übernehmen und in den folgenden 3 Schritten unseren Kindern friedliche und wertschätzende Konfliktlösung vorleben beziehungsweise anleiten.

3 Schritte für eine wertschätzende Konfliktlösung

Wir „leihen“ ihnen dabei die Empathie, das Verständnis und die Worte, die vielleicht noch nicht da sind, oder auf die sie gerade nicht zugreifen können, in dem Vertrauen, dass sie jedes Mal ein bisschen mehr lernen, wie Konfliktlösung funktionieren kann.

In diesem Sinne sind die folgenden Schritte, mögen sie auch erstmal Zeit, Energie, Geduld und Liebe benötigen, immer auch eine Investition in die Zukunft, in die Konfliktfähigkeit und in die Problemlösungskompetenz eurer Kinder.

1. (Elterliche) Führung übernehmen - das Problem verstehen

Paulina, 3 Jahre, hat Fernsehzeit und freut sich schon den ganzen Tag darauf. Henry, 1 Jahr, will lieber mit seiner Schwester spielen und nimmt Kontakt auf, indem er sie zwickt. Paulina wehrt sich mit Fußkicken.

Wer hat hier ein Problem? – Und welches?

Ich würde sagen: Paulina. Denn ihre Grenze wird nicht gewahrt. Henry ist natürlich noch zu klein, um das zu verstehen. Aber Paulina ist ebenfalls noch zu klein, um die Situation für sich auf verbaler, wertschätzender Ebene zu lösen.

Wenn wir das Problem verstanden haben - Henry geht gerade über Paulinas Grenze - können wir einschreiten. Wir können Henry zu uns nehmen und mit ihm etwas anderes spielen. Dass Paulina in Ruhe ihre Lieblingsserie schauen kann, obliegt nicht ihrer Verantwortung und auch nicht Henrys – sondern unserer. Wir sorgen für die Einhaltung der Grenzen unserer Kinder, und der Werte in unserer Familie.

Beim nächsten Mal könnten wir auch schon vorausschauend handeln, in dem wir uns Gedanken machen, was Henry machen kann, wenn Paulina gerade Fernsehzeit hat.

In diesem Beispiel könnte man mit Paulina auch Strategien finden und üben, wie sie ihre Grenze verbal ziehen kann („Ich will das jetzt nicht.“) und mit Henry, dass er diese Grenze auch zu wahren lernt. Allerdings sind beide Kinder noch sehr klein – erwartet also nicht, dass dies von heute auf morgen ohne eure Hilfe klappt. Hier braucht es vermutlich och eine Zeit lang euren Support und eure elterliche Führung.

Bestimmte Muster erkennen

Zum Problem verstehen kann auch gehören, bestimmte Muster zu erkennen. Beobachtet mal, wann eure Kinder meistens besonders viel streiten. Im morgendlichen Stress? In der abendlichen Müdigkeit? Im Nachmittagstief? Bei Langeweile im Auto? Wenn sie hungrig sind? In vielen Fällen könnt ihr auch hier bereits präventiv agieren: Einen Snack gegen den Hunger, ein Zwischenkuscheln bei Müdigkeit, Spiele im Auto, vielleicht die Morgenroutine abändern...

Manchmal bekommt ihr naturgemäß die Anbahnung des Konflikts gar nicht mit – was auch gut so ist - und steht plötzlich vor zwei aufgebrachten, schreienden Kindern. Dann ist es wichtig, erstmal die Gefühle zu begleiten, die im Raum stehen und danach zuzuhören, was passiert ist.

2. Gefühle begleiten

Wichtige Basis hierfür ist es, dass ihr selbst ruhig und entspannt bleibt. Je ruhiger wir sind, umso besser können sich unsere Kinder beruhigen.Nehmt die Gefühle an, die gerade da sind. Kinder dürfen sich übereinander ärgern, sie dürfen sich blöd finden, sie dürfen wütend, traurig, enttäuscht sein. Das sagt nichts über die Qualität eures Familienlebens aus, oder darüber ob ihr eine gute Mama oder ein guter Papa seid. Gebt den Gefühlen erstmal Raum, bis sie abklingen und die Worte zurückkehren.

3. Zuhören und - wenn möglich - eine Lösung finden

Worum geht es eigentlich? Das ist essenziell, wenn wir den Konflikt verstehen und eine Lösung finden wollen, die für alle passt.

Hört beiden Kindern gut zu. Ihr müsst nicht darüber „richten“ wer „die Wahrheit“ erzählt oder wer „schuld“ ist. In einem Konflikt gibt es selten „die Wahrheit“ oder „eine*n Schuldige*n“ und wer sind wir, dass wir darüber richten sollen?

Wichtig ist vielmehr, beide Kinder in ihrer Not zu sehen. Es ist vollkommen normal, dass die Situation von beiden unterschiedlich erlebt wurde – und das ist okay.

Kindern geht es ganz oft ums gesehen, verstanden und ernstgenommen werden. Wenn wir ihnen das bereits im Gespräch erfüllen, in dem wir wirklich zuhören und verstehen, in dem wir sie anhören und sehen, indem wir ihnen glauben, wie es für sie war, braucht es oft gar keine Konfliktlösung mehr.

Am besten immer die Kinder miteinbeziehen

Wenn ihr dennoch eine Lösung finden möchtet, versucht dabei immer die Kinder miteinzubeziehen. Sie haben manchmal Lösungen, auf die wir selbst nie gekommen wären, weil wir schon zu festgefahren sind in unserem Denken (abwechseln, teilen, nacheinander spielen).

„Tommi, du hast Sebastian das Spielauto weggenommen, weil du so gerne damit spielen wolltest, oder? ... Und  Sebastian, du hast dich geärgert und hast dir das Auto zurückgeholt, weil du auch damit spielen wolltest? ... Und dann habt ihr euch beide übereinander geärgert, richtig? Das verstehe ich .... Ihr wollt also beide mit dem Auto spielen und Sebastian hatte es zuerst... Habt ihr eine Idee, was ihr jetzt machen könntet?“ Helft euren Kindern gegebenenfalls auch bei der Umsetzung der Lösung, denn je nach Alter oder Lösung ist dies nicht so einfach.

Problem verstehen - Gefühle da sein lassen - Kinder sehen - Lösung finden.

Bei jedem Konflikt, den ihr so begleitet, lernen eure Kinder, worauf es bei einer wertschätzenden und nachhaltigen Konfliktlösung ankommt: die Bedürfnisse und Gefühle des anderen zu verstehen und auf dieser Basis einen Kompromiss oder Konsens zu finden. Wir müssen dafür nicht jeden Konflikt unserer Kinder derartig begleiten. Sie dürfen ruhig auch eigene Erfahrungen machen, ausprobieren. Das Gespür dafür, wann sie uns brauchen und wann nicht, kommt ohnehin oft intuitiv.

Durch Unterstützung zu Eigenständigkeit

Ziel sollte es sein, durch eure Unterstützung die Kinder in ihre Eigenständigkeit zu begleiten. Schaut also mal, ab wann ihr ihnen zutrauen könnt, Lösungsideen ganz alleine zu finden, nachdem ihr ein wenig moderiert habt, oder welche Konflikte sie vielleicht schon ganz alleine lösen können.

#Elternimpulse Webinar zum Thema „Geschwisterkinder stärken und Konflikte wertschätzend lösen“ 

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