Erziehung ist kein Kinderspiel - Die magische Phase

Was tun, wenn mir mein Kind Geschichten erzählt, die keinesfalls wahr sind. Ist mein Kind ein Lügner? Ab wann kann es zwischen Fantasie und Wirklichkeit unterscheiden?

Die meisten wissen, dass Kinder zwischen 3 und 5 Jahren die magische Phase durchlaufen. Nicht nur Märchen, sondern vor allem auch die eigene überbordende Fantasie regt sie dazu an, Fantasiewelten zu erschaffen, die für sie genauso wichtig sind wie die Wirklichkeit.

Alle Entwicklungsschritte werden durch das Spiel begleitet

Ist es nicht erstaunlich, dass alle kindlichen Entwicklungsschritte lustvoll und spielerisch stattfinden? Je spielerischer, umso effektiver? Die Selbstwahrnehmung und das Selbstwertgefühl entwickeln sich durch das Zulächeln, den zärtlichen Körperkontakt und das achtsame Wahrgenommen werden durch die engsten Bezugspersonen. Die Sprachentwicklung beginnt mit fröhlichem Plappern. Die motorischen Fähigkeiten durch unermüdliches, spielerisches Bewegen, Greifen, Loslassen, Krabbeln, sich Aufrichten, Gehen, Hüpfen, Laufen, Klettern. Das alles macht Spaß!

In der „magischen Phase“ treten Imagination und Wirklichkeit zueinander in einen spielerischen Dialog

Mit etwa drei Jahren ist die Körperentwicklung schon relativ ausgereift und das Kind entwickelt seine kognitiven Fähigkeiten. In der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt setzt die magische Phase ein, wieder auf spielerische Weise. Es hört gerne Geschichten und erfindet welche. Wenn Hans Holgerson auf seiner Gans durch die Lüfte saust, dann weiß das Kind wohl, dass dies ein Märchen ist, oder es wird auf Nachfrage darüber aufgeklärt. Der Zauber des Märchens ist davon jedoch ungebrochen. In fröhlichem Geplapper erfindet es selbst neue Geschichten. Imagination und Wirklichkeit treten zueinander in einen spielerischen Dialog, der das Kind dabei unterstützt, die Bedeutung und Zusammenhänge von Realitätserfahrungen zu bearbeiten.

Imagination und Wirklichkeit treten zueinander in einen spielerischen Dialog, der das Kind dabei unterstützt, die Bedeutung und Zusammenhänge von Realitätserfahrungen zu bearbeiten.

kind liegt am wohnzimmerboden und sieht in die luft

Die Identitätsentwicklung erfolgt durch Identitätsfiguren aus der Realität und aus den Geschichten

Jede Geschichte hat Helden und Widersacher mit bestimmten Eigenschaften, die das Kind nachahmenswert oder abscheulich findet, eingebettet in spannende Handlungsabläufe. Das Hören und Erfinden von Helden und Heldinnen bedeutet für das Kind nicht nur eine aktive Auseinandersetzung mit seiner sozialen und realen Umwelt, sondern ermöglicht ihm auch seine Eindrücke, seine Ängste und Bedürfnisse zu verarbeiten. Es ermöglicht ihm Realitätslernen und innere Balance herzustellen und seine Wüsche und Allmachtsfantasien wenigstens in der Vorstellung zu erfüllen.

Fallbeispiel 1: So erzählt Simon mit drei Jahren detailreiche Geschichten von seinem älteren Bruder Max, mit dem er unglaubliche Erlebnisse hat und der ihm die tollsten Streiche zeigt, die sich anhören, als wären sie real.

Wie soll man auf solche Fantasiegeschichten reagieren?

Als der Vater gefragt wurde, ob es tatsächlich einen älteren Bruder gäbe, und darauf antwortete „Nein, es ist nicht wahr!“ reagierte der Sohn mit lautem Weinen. Er fühlte sich missverstanden und bloßgestellt. Bei anderer Gelegenheit antwortete der Vater mit einem Augenzwinkern: „Max ist Simons bester Kumpel!“ Wenn Simon ihm die Erlebnisse mit Max schildert, so geht er nun amüsiert darauf ein, fragt nach, kommentiert interessiert. Oder er lässt seinen Sohn einfach munter drauf los plaudern, was ja auch die Sprachentwicklung fördert. Simon kann seiner Fantasie freien Lauf lassen und beide haben Spaß daran, wissend, dass hier nicht von Realität die Rede ist. Wenn der Vater abschließend empathisch meint „So einen Bruder wie Max hättest du wirklich gern!“ landet Simon wieder sanft auf dem Boden der Wirklichkeit. Man kann auch einfach wieder an den Alltag anknüpfen, wie „Komm, wir gehen nun Zähne putzen!“ Mit so einem Vater blüht Simon auf, weil er sich ganz tief wertgeschätzt und verstanden fühlt. Keinesfalls sollten Sie Ihr Kind als Lügner abstempeln.

Keinesfalls sollten Sie Ihr Kind als Lügner abstempeln.

Fallbeispiel 2: Ein anderes Beispiel, ebenfalls mit einem Dreijährigen: Die Mutter sucht ihre Autoschlüssel, denn man will wegfahren. Da meint ihr Sohn Rudi überzeugend „Als du vorhin im Badezimmer warst, da kamen zwei fremde Männer durch den Garten herein und haben ihn mitgenommen.“ Die Mutter fragt etwas nach und merkt, dass an der Geschichte etwas nicht stimmen konnte. Dann sagte sie behutsam, aber direkt „Hast du diese Männer in der Realität oder in deiner Fantasie gesehen?“, worauf sie ein verschmitztes Lächeln erntet, als Zeichen des Eingeständnisses. Dann meinte sie: „Komm, hilf mir beim Suchen“. Bald wurde der Schlüssel gefunden.

Ab wann ist eine Lüge eine Lüge?

Wenn die vierjährige Tochter auf die Frage „Wer hat die Milch ausgeschüttet?“ mit „Die Katze war`s“ antwortet, obwohl das Tier weit und breit nicht zu sehen ist, ist es dann eine Lüge? Wenn offensichtlich ist, dass das Kind einen Fehler nicht zugeben, sondern auf einen anderen abschieben will, und deshalb gerne seine Fantasie bemüht - dann gilt es, ihm sanft klarzumachen, dass es nichts zu befürchten hat, aber man wissen möchte, wie es wirklich war.

Wenn Eltern Interesse zeigen und im Dialog bleiben, wird das Kind auf ganz natürliche Weise den Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit, Wahrheit und Lüge verstehen lernen und die magische Phase verschwindet wie von selbst, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hat.

Wenn Eltern Interesse zeigen und im Dialog bleiben, wird das Kind auf ganz natürliche Weise den Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit, Wahrheit und Lüge verstehen lernen und die magische Phase verschwindet wie von selbst, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hat. Die Erforschung der Wirklichkeit erfolgt zunehmend auf mehr kognitive Weise und wird von den vielen „Warum?“ Fragen begleitet.

Fantasie fördert Kreativität

Nicht nur das Erlernen von Zahlen und Fakten ist für den späteren Erfolg im Leben wichtig. Eine blühende Fantasie fördert die Kreativität und die Entfaltung der Persönlichkeit.  Kreativgeister werden nicht nur in der Kunsts, sie werden in allen Lebensbereichen benötigt. Sie sind der Sauerteig unserer Wissensgesellschaft und geben ihr Dynamik und Sinn.

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Ein Artikel von

Portraitfoto Maria Neuberger-Schmidt

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