„Erziehung ist (k)ein Kinderspiel“ – Julian und die blöden Fehler

Wie können Eltern ihren Kindern wirkungsvoll helfen? Hier ein Fallbeispiel.

Julian, 11, ist begabt und ehrgeizig. Dementsprechend zählt er zu den besten Schülern in seiner Klasse und seine Eltern sind mit ihm sehr zufrieden. Aber er ist es nicht! Sobald seine Leistungen nicht top sind, zeigt er sich zerknirscht und wütend: 

Problemstellung

  • Julian: „Wie konnte ich nur so dumm sein und so blöde Fehler machen! Das kann auch nur mir passieren!“
  • Seine Mutter versucht ihn zu trösten: „Nein, du bist nicht dumm! Das kann doch jedem passieren!“ 
  • Julian: „Doch! Bin ich! Und außerdem bekomme ich jetzt sicher keinen Einser mehr ins Zeugnis!“ 
  • Mutter: „Und wenn schon! Die Anna zum Beispiel wäre froh, wenn sie so gute Noten hätte wie du!“
  • Julian: Julian ist empört: „Wie kannst du mich nur mit der Anna vergleichen!“ 
  • Mutter: „Sei nicht so ehrgeizig! Dadurch wirst du nur verkrampft!“ 
  • Julian: „Du verstehst mich nicht!“ 

Analyse

Mir ist klar, dass viele Eltern diese beiden um ihr Problem beneiden. Aber wieso führte dieses Gespräch in die kommunikative Sackgasse? Um ihren Sohn zu trösten und ihm zu helfen, versucht die Mutter, ihm seine negativen Gefühle auszureden und das Problem abzunehmen. Dadurch aber fühlt er sich weder verstanden noch ernst genommen und er beginnt, auf alles, was sie sagt, zu widersprechen. Daher „reitet“ er sich immer stärker in sein Problem hinein („Du bist nicht dumm!“ – „Doch, bin ich!“).

So baut er an seinem eigenen negativen Selbstbild. Wenn die Mutter sagt „Du bist immer so verkrampft“, dann ermöglicht sie es ihrem Sohn nicht, über seine ambivalenten Gefühle zu sprechen. Daher kann er sie auch nicht verarbeiten. Da er keine emotionale Unterstützung erfährt, fällt es ihm schwer, die innere Balance zu finden.

Sohn schaut seine Mutter an

Das Kind begleiten

Wenn die Mutter ihren Sohn stattdessen als Coach begleitet, dann ermöglicht sie ihm einen „Selbstklärungsprozess“. In diesem Fall könnte sich der Dialog beispielsweise so entwickeln:

  • Julian: „Wie konnte ich nur so dumm sein und so blöde Fehler machen. Das kann auch nur mir passieren!“
  • Mutter: „Du bist ganz schön verärgert, dass du diese Fehler gemacht hast…“ Wertfreie Kommunikation: Die Mutter akzeptiert wertfrei, dass Julian negative Gefühle hat, dass er sich fühlt wie er sich eben fühlt. Wenn sie mit der Stimme oben bleibt, ist es wie eine Einladung zum Weiterreden und infolgedessen fährt Julian mit seinem inneren Selbstklärungsprozess fort.
  • Julian: „Ja, dabei kenne ich mich so gut aus und ich war wirklich gut vorbereitet.“
  • Mutter: „Wirklich ärgerlich!“ Akzeptanz: Mutter akzeptiert nochmals seine Gefühle.
  • Julian: „Es kann sein, dass ich mir dadurch den Einser im Zeugnis verpatze!“ (Julian äußert Bedenken)
  • Mutter: „Es ist dir ganz wichtig, ein ausgezeichnetes Zeugnis zu haben!“ Aufnahme: Die Mutter nimmt es zur Kenntnis ohne zu kommentieren.
  • Julian: „Ja richtig. Andere wären froh, wenn sie meine Noten hätte, die Julia zum Beispiel, aber mir ist der Einser einfach wichtig. Außerdem gab es nur drei, die mehr Punkte hatten als ich.“ (Julian untersucht seine Chancen)
  • Mutter: „Also, gemessen am Klassendurchschnitt bist du trotzdem ziemlich weit vorne.“ Wiederholung: Die Mutter wiederholt mit eigenen Worten, was er gesagt hat.
  • Julian: „Ja, der Professor weiß, dass ich zu den besten zähle. Ich werde morgen zu ihm gehen und ihn fragen, wie meine Chancen stehen. Vielleicht muss ich zu einer Entscheidungsprüfung antreten. Das wäre nicht schlimm. Das wird sicher gut gehen, denn ich kenne mich im Stoff aus. Und außerdem hätte ich noch Gelegenheit zu wiederholen.“ (Julian fühlt sich verstanden und überlegt Lösungsmöglichkeiten.)
  • Mutter: „Du siehst also durchaus Lösungsmöglichkeiten.“
  • Mutter wiederholt, bringt es auf den Punkt.
  • Julian: „Ja, ich lass mich von einem kleinen Missgeschick nicht aus der Bahn werfen.“ (Julian baut sich selber auf, findet seine Stärke wieder)
  • Mutter: „Das finde ich gut. Wo ein Problem, da gibt es auch eine Lösung. Also dann, gute Nacht, bis morgen!“
  • Anerkennung: Die Mutter gibt Anerkennung.

Analyse

Die Mutter hat den Selbstklärungsprozess Julians optimal unterstützt, indem sie einfach aktiv zuhörte: Sie hat seine Gefühle gespiegelt, seine Ideen zusammengefasst, seine Aussagen auf den Punkt gebracht. Dadurch hat sie ihm emotionale Entlastung geboten und ihm ermöglicht, „laut nachzudenken“.

Die drei Phasen der Selbstklärung „verstehen, klären, lösen“ lassen sich deutlich nachvollziehen. Nachdem die Mutter lediglich Verständnis zeigte, ergab sich die Klärungsphase und zuletzt die Lösung wie von selbst. Danach brauchte sie nur noch Anerkennung zu geben.

Julian kann es zum Abschluss akzeptieren, denn er fühlt sich in seiner Kompetenz und seinem Selbstwertgefühl bestätigt und aufgebaut. Als sie das Gespräch beenden, fühlen sich gut und einander verbunden. Das Gesprächsklima war für beide locker und angenehm. Die Mutter hat sich keinen Lösungsstress gemacht, sondern darauf vertraut, dass ihr Sohn mit seinem Problem selber klar kommt. Auch für sie war es schön, dies zu sehen. Wenn er Hilfe braucht, würde er es sagen, da er sich nicht bevormundet fühlt. 

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Ein Artikel von

Portraitfoto Maria Neuberger-Schmidt

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