Wir sind dann mal weg – Urlaub mit Neurodivergenzen im Gepäck
Man liest ja oft diesen Satz: „Urlaub ist, wenn man die Kinder an einem anderen Ort betreut.“ Und ja, manchmal fühlt es sich genauso an, doch in diesem Urlaub nicht für uns.
Drei Familien mit fünf Kinder und ADS, ADHS und Autismus-Spektrum im Gepäck. Plus ein paar Eltern, die selbst nicht ganz neurotypisch ticken – sagen wir so: Wir waren ein bunter Haufen mit sehr unterschiedlichen Bedienungsanleitungen. Von außen betrachtet vielleicht ein Experiment in Sachen „Wie laut kann Urlaub werden?“. Von innen betrachtet ein Abenteuer voller Geduld, Flexibilität, Verständnis, Lachen und tatsächlich Erholung.
Flexibilität ist unser zweiter Vorname
Während die einen am liebsten den ganzen Tag Action hätten, brauchen die anderen regelmäßig Rückzugspausen, manche wollten schon beim Frühstück wissen, wie der Tag exakt ablaufen wird, andere lassen sich lieber spontan überraschen oder können mit Planänderungen gar nicht gut umgehen. Ein Teil der ständig Hunger hat, ein Teil der gar nichts essen will, weil unbekanntes Essen und ein Teil der nur Süßes will. Und dann gibt’s noch die Kleidungs-Fraktion: „Ich trage nur das, was nicht kratzt – ich will aber eine kurze Hose anziehen bei 15 Grad in den Bergen- und nein, Mapa, ich will nicht darüber reden.“
Für uns Eltern hieß das: spontan sein, umplanen, umschwenken – egal ob beim Essen, bei den Aktivitäten, beim Medienkonsum oder bei der Schlafenszeit.
Unser Hotel – unser Reich
Wir hatten das Glück, ein kleines, uns schon seit Jahren bekanntes Hotel zu beziehen und weil wir so viele waren, haben wir einfach alle verfügbaren Zimmer genommen. Das hieß: ein ganzer Flur nur für uns, ein Frühstücksraum für uns alleine, der Garten und all seine Spielsachen – nur für uns! Keine mahnenden Blicke, wenn Kinder fröhlich (oder frustriert) über den Gang polterten, kein: „Pscht, hier sind auch noch andere Gäste“ und kein Schämen am Frühstücksbuffet. Du musst während dem Frühstück plötzlich aufs Klo, obwohl wir vor 5 Minuten erst aus dem Zimmer gegangen sind? Kein Problem geh ruhig. Du möchtest lieber im Stehen essen? Kein Problem mach ruhig. Du möchtest gerade eine Melodie zum hundertsten Mal summen? OK, mach ruhig. Kein „Entschuldigung, das passiert sonst nie“ – weil wir alle wussten: Doch, genau das passiert, und es ist OK. Wenn Kinder mit allen ihren Besonderheiten einfach so sein können, wie sie sind, und sich Eltern nicht dafür schämen oder rechtfertigen müssen, dann ist das Erholung!
Die legendäre „2-Stunden-Wanderung“
Geplant: eine gemütliche Rundwanderung zum Wasserfall.
Veranschlagte Dauer: 2 Stunden.
Tatsächliche Dauer: 4,5 Stunden.
Die Ereignisse im Schnelldurchlauf:
- 700 Meter: Steinchen im Schuh, das auf der Stelle entfernt werden muss. Kratzende Socken, die man auf links dreht, damit man die Naht nicht spürt. Ein unbequemer Rucksack der kurzerhand in einen bestehenden Erwachsenen-Rucksack hineingestopft wurde. Gefühle begleiten und Verständnis zeigen.
- 1 Kilometer: Erster Wasserkontakt mit dem Fluss, erstes hineinplatschen, weil der Weg über den Ast doch nicht funktioniert hat – Pause zum Trocknen, Gefühle begleiten.
- 1,2 Kilometer: Ausführliches Gespräch darüber, dass das normale Himbeeren sind, die hier wachsen und diese essbar sind. Die schwarzen Beeren daneben aber giftig sind und wir nichts pflücken oder essen, dass wir nicht kennen.
- 1,5 Kilometer: Es wurde aus dem Fluss getrunken. Zweiter Wasserkontakt – diesmal komplett hineingeplumpst, also Kleidung trocknen und trösten. Gefühlsausbruch, weil die Steine im Flussbett piksen und das Wasser zu kalt ist.
- 1,8 Kilometer: Gefühlsausbruch, weil man mit der Drohne von Papa nicht fliegen darf.
- 2,5 Kilometer: Die Erwachsenen fragen sich, wem wohl als nächstes etwas passieren wird.
- Dazwischen jede Menge Pausen für Fotos, Natur, Steine ins Wasser schmeißen, essen, trinken und Toilettengänge.
- Und tatsächlich ging der Rest der Wanderung besser voran, schließlich ist bis dahin eh schon alles möglich passiert, das für den Rest des Tages eigentlich reichen sollte.
Und ja – solche Szenen gibt’s sicher auch in neurotypischen Familien. Nur dass bei uns alles gleichzeitig passiert und in Stereo.
Zwischen Meltdowns und Freudentänzen
Wir hatten Wutausbrüche, Stimming* in Dauerschleife, plötzliche Meltdowns und genauso plötzliche Lachanfälle und Momente des Genießens, weil unsere Kinder einfach sein konnten, wie sie sind.
- Kinder, die ausgelassen durchs Gras rannten und kugelten.
- Kinder, die sich in eine stille Ecke zurückzogen, wenn es zu viel wurde.
- Kinder, die in ihrer eigenen Welt versanken und sich stundenlang mit den merkwürdigsten Dingen beschäftigen konnten.
- Kinder die von ihren eigenen Eltern nicht ständig ermahnt wurden.
- Kinder die ihrem eigenen Rhythmus ein Stück weit folgen konnten.
- Und vor allem Eltern, die das einfach alles so stehen ließen.
Niemand musste erklären, warum sich das eigene Kind gerade so oder so verhält, weil wir alle wussten, dass das dazugehört.
Unser Fazit
Urlaub mit Kindern kann so viel mehr sein als „Kinder-hüten“ an einem anderen Ort. Vor allem, wenn man ihn mit Menschen verbringt, die ähnliche Herausforderungen kennen, die Erwartungen anpassen können und wissen, dass Kinder nun mal Kinder sind – keine kleinen Erwachsenen. Den Urlaub mit Menschen zu verbringen, vor denen man sich nicht rechtfertigen muss und die keine verurteilenden Blicke verteilen, ist ein Urlaub mit Kindern, der Erholung bedeutet.
* kurz für "self-stimulatory behavior", ist ein Begriff, der selbststimulierendes Verhalten beschreibt, bei dem sich Personen wiederholende Bewegungen oder Laute zuführen, um ihre Emotionen zu regulieren oder sensorische Reize zu verarbeiten.