Mit Kindern über Gegenwartsmusik diskutieren
Die Zeit der Kinderlieder ist bei uns vorbei. Wir trauern ihr nicht nach. Denn die Diskussionen über Musik sind komplexer geworden.
Es gibt eine Annahme über Musik, die ich sehr interessant finde. Diese lautet – sinngemäß – dass Kinder „anders“ hören als Erwachsene.
Kinder hören unvoreingenommener, freier.
Eben weil sie noch nicht von unserer „westlichen“ Musik erzogen oder auch verzogen sind, was natürlich eine Frage der Perspektive ist. Ganz einfach runtergebrochen geht es hier darum, dass Kinder zu Beginn noch nicht – wie es unsere Ohren tun – in Bezug auf Töne und vor allem auf Tonleitern nicht zwischen „richtig“ und „falsch“ unterscheiden können. Wir als Erwachsene tun es natürlich wie selbstverständlich, eben weil wir in ein gewisses Tonalitäts- und Harmoniekorsett "gezwängt" wurden.
Noten zwischen Halbtonschritten tun uns „weh“, sie kommen uns falsch vor.
Unsere Ohren kennen keine Zwischentöne, keine Mikrotonalität, wie es sie beispielsweise im Fernen oder im Nahen Osten gibt.
Auch mit Geräuschen gehen Kinder wohl toleranter und offener um. Was ist „Lärm“ und was ist „Musik“? Gewisse Lärmelemente können in Kinderohren ganz normal klingen, lustig, interessant oder was auch immer. Jedenfalls wird nicht von vornherein „Musik“ von „Lärm“ getrennt.
Das sind alles nicht nur abstrakte Überlegungen, die wiederum auf Überlegungen von diversen Musikwissenschaftern und Musikethnologen basieren und sich auch empirisch belegen lassen. Es sind vor allem Grundlagen für meine Annahme, dass Kinder an sich für sogenannte „Neue Musik“ offener sind. Auch dort ist es ja bekanntlich so, dass das Verhältnis von Wohlklang und Lärm ganz anders definiert ist und der „Lärm“ und das Atonale (oder Freitonale) wie selbstverständlich dazugehört und die Musik gewissermaßen ausmacht und definiert.
Diese Annahme öffnet uns wieder Tür und Tor, um mit unseren Kindern über solche Musik – in den jeweils möglichen, altersgerechten Kontexten – zu diskutieren und sie auch zu hören.
Zuhause beim Frühstück passt es eher nicht, aber es gibt Zeiten, wo wir bewusst hinhören oder wir gemeinsam Konzert besuchen.
Nicht alles gefällt ihnen, aber auch „gefallen“ ist ja eine Kategorie, die in diesem Bereich nicht die größte Rolle spielt.
Was wir aber auch zum Teil erstaunt feststellen: Sie sind – no na net – auch bereits geprägt. Von Charts, von Instagram, von Musikclips, vom Radio, von Klassenkolleginnen und vielem mehr. Wozu es definitiv nicht ausarten sollte: Zu einer Art Wettbewerb oder gar zu einer Art Feldstudie. Bitte kein Kaspar Hauser Versuch, in der Kinder möglichst von der „konventionellen Musik“ abgehalten werden und somit ihr abweichendes Musikverständnis „erforscht“ werden würde. Nichts liegt mir ferner!
Und dennoch finde ich die Idee anregend, dass wir dieser Art von Musik, dieser Art von Diskussion und mit der Tatsache, dass wir das als Familie überhaupt reflektieren ein wenig „gegensteuern“ können. Und wenn uns nicht mal das – in welchem Ausmaß auch immer – gelingt, dann immerhin die Grundlegung eines „kritischen Bewusstseins“. Und damit eben die Tatsache, dass nichts notwendigerweise so ist, wie es eben sein muss. Anders gesagt: Dass es auch genau so gut anders sein könnte.
Das heißt also: Es geht keinesfalls darum, unsere „westliche“ Musik zu verteufeln. Und schon gar nicht populäre Musik, die ja wiederum ein nur sehr kleiner Ausschnitt ist.
Aber es geht um die Erweiterung der Hörgewohnheiten.
Es gibt im Kritik, es geht um Abenteuerlust, es geht um Lust aufs Entdecken und ums Andersdenken von Dingen und Aspekten.
Ob ich damit der Kunst zu viel zutraue? Womöglich.
Denn an sich ist sie ja auch wirkungslos. Es braucht Personen, die einem diese Kunstwerke und Artefakte „aufschlüsseln“ und erklären. Was dann übrig bleibt, ist dann natürlich ungewiss. Aber es ist ja so, dass vieles wieder aufkeimt, wenn man gar nicht mehr annimmt, dass das passieren konnte. Eltern können ohnehin „nur“ grundlegen und den Samen legen für Dinge, die dann später zur vollen Blüte kommen, wenn sie gepflegt werden oder eben verkümmern, wenn sie nicht mehr weiterverfolgt und forciert werden.