Familienfest mit Dynamik: Warum es zu Weihnachten „menschelt“
Weihnachten – das Fest der Liebe, Harmonie und Geborgenheit. So stellen wir es uns vor. Doch die Realität sieht oft anders aus: Erwartungen prallen aufeinander, alte Rollen melden sich zurück, und plötzlich „reibt“ es. Ein Blick hinter die Kulissen des Weihnachtszaubers ermöglicht neue Wege. Entdecke wie du achtsam bei dir bleiben, Grenzen wahren und echte Verbindung schaffen kannst. Denn Weihnachten darf mehr sein als Harmonie: Es darf menschlich sein.
Weihnachten gilt als Fest der Liebe. In Filmen, in Büchern und in unserer ganz eigenen Vorstellung feiern wir es gemeinsam - harmonisch. Während draußen der Schnee fällt, sitzen wir vorm geschmückten Weihnachtsbaum. Wir lachen, wir scherzen, wir kuscheln, wir schenken, wir sind voller Dankbarkeit, Leichtigkeit und Verbundenheit.
All dies ist auch meistens da, nur ... subtiler.
Weihnachten – ein Fest, viele Landkarten
In der Realität erleben viele Familien, dass es zu Weihnachten „reibt“. Was ein Tabuthema sein mag, ist im Grunde vollkommen natürlich. Da, wo viele Menschen an einem Tag zusammenkommen, der so mit Bedeutungen und Erwartungen aufgeladen ist wie Weihnachten, da „menschelt’s“. So viele unterschiedliche Vorstellungen von einem gelungenen Fest, so viele persönliche Eigenheiten, so viele „Landkarten“ – bestehend aus unseren Werten, Vorstellungen, Wünschen, Erwartungen, Glaubenssätzen.
Und das heißt nicht, dass wir uns nicht trotzdem wahnsinnig lieb oder gernhaben. Es ist nur so, dass durch das Zusammenkommen in unserer Kernfamilie in uns, in den anderen und in Beziehung miteinander jeweils ganz eigene Dynamiken starten, die oft zu ausgesprochenen oder unausgesprochenen Konflikten führen, wenn wir sie uns nicht bewusst machen.
Dieser Artikel lädt euch dazu ein, Weihnachten nicht nur als Fest der Liebe und Freude zu betrachten, sondern auch als Einladung, euch selbst an diesen Weihnachtsfeiertagen achtsam wahrzunehmen und für euch zu sorgen - mit euren eigenen Grenzen, Bedürfnissen und Möglichkeiten -, sowie einander etwas besser zu verstehen und zu sehen. Denn auch das ist Weihnachten: Raum für sich und andere, Raum für echte Verbindung, die dort entsteht, wo wir einander annehmen und schätzen, so wie wir sind – menschlich eben.
Was hat es mit den „Landkarten“ auf sich?
Wir mögen eine Familie sein – und dennoch bringt jede und jeder eine eigene „Landkarte“ mit. Unsere Landkarte ist geprägt von unseren persönlichen Erfahrungen, Werten, Wünschen und Erwartungen. Vieles davon ist unbewusst. Diese Landkarte bringen wir zum Weihnachtsfest mit und gehen oft automatisch davon aus, dass die anderen dieselbe Landkarte haben, wie wir. Das ist aber nicht der Fall.
Die anderen haben ihre eigenen Landkarten.
Wenn wir die Landkarten vorab nicht abstimmen, gibt es oft zwangsweise Unverständnis, Ärger, Frust oder Enttäuschungen. Weil die anderen nicht denken, wie wir denken. Weil sie nicht dieselben Wünsche, Vorstellungen, Werte haben, nicht haben können. Wenn ihr könnt, macht es durchaus Sinn, vorab mal die Landkarten auszubreiten und über sie zu sprechen:
- Was wünscht sich jede:r, abseits von Geschenken?
- Was ist jedem und jeder von uns wichtig?
- Wie können wir Kompromisse finden, mit denen sich alle wohlfühlen?
- Was braucht es dazu?
Eine hilfreiche innere Frage, wenn wir uns gerade über etwas ärgern oder frustriert sind, kann auch sein:
- Was erwarte ich gerade?
- Wissen das die Anderen überhaupt?
- Habe ich das ganz konkret geäußert?
- Mir ist wichtig, dass...?
- Sind meine Wünsche und Erwartungen vielleicht zu hoch?
Vom „Kind-Ich“ ins „Erwachsenen-Ich“
Zu den unterschiedlichen Landkarten kommt noch ein weiterer Punkt, der es oft etwas herausfordernd macht:
Wir können der erwachsenste Mensch sein, mitten im Leben stehen, selbst bereits Eltern sein – und trotzdem fühlen wir uns zuhause bei unseren Eltern oder im Zusammensein mit ihnen oft wieder wie Kinder. Das liegt daran, dass in unseren Kernfamilien vertraute Rollen und Dynamiken greifen, die über viele Jahre gewachsen sind. Tiefe Prägungen lassen uns plötzlich wieder klein und hilflos fühlen, wütend, trotzig oder nicht richtig.
Der erste achtsame Schritt mit uns selbst ist, diesen inneren Prozess wahrzunehmen: zu spüren, wann wir in unserem „Kind-Ich“ sind – und Wege zu finden, wieder das „Erwachsenen-Ich“ zu leben, auch wenn die Großtante, Großonkel, Mama, Papa etc. unseren Erziehungsstil, Kleidungsstil, fehlende Tischmanieren, die Menüwahl oder das Chaos zuhause kritisieren.
Der Kind-Ich-Anteil in uns hat dann das Gefühl, nicht richtig zu sein. Wir verteidigen uns, werden trotzig, laut oder still - wir sind verletzt. Wir erinnern uns an damals, wo wir es vielleicht auch „nie richtig machen konnten“.
Der Erwachsenen-Anteil in uns könnte anders mit der Situation umgehen. Er könnte die eigenen Gefühle ansprechen, er könnte sich abgrenzen und das Ganze „stehen lassen“, er könnte sehen, dass die Wertung nur aus der eigenen Prägung der jeweiligen Person, aus ihrer Landkarte herauskommt und wenig mit uns zu tun hat. Er könnte die Großtante Großtante sein lassen. Weil es dann nichts mehr mit unserem Wert macht. Der Erwachsenen-Anteil kann erkennen, dass jeder Mensch seine eigene Landkarte hat: an Werten, Meinungen und Erwartungen. Und er kann diese stehen lassen, ohne sie übernehmen zu müssen oder sich dafür verantwortlich zu fühlen.
Bewusstsein ist der erste Schritt
Dorthin zu kommen ist ein vielschichtiger Prozess, aber das Bewusstsein darüber ist der erste, wichtigste Schritt. Und schon die Achtsamkeit mit uns kann helfen, bei uns zu bleiben.
Wir können dann bewusst ruhig atmen und uns im Hier und Jetzt verankern, zum Beispiel indem wir beide Füße am Boden spüren, uns vielleicht sogar feste Wurzeln vorstellen, die uns im Boden verhaften. Wir erden uns. Hilfreich kann dann die Erinnerung sein:
Wir sind nicht unser Kind-Ich.
Das Kind-Ich ist ein Anteil in uns – und wir haben noch andere Anteile zur Verfügung. Und die holen wir jetzt auf unsere innere Bühne! Raus aus alten Mustern, hinein in unser gegenwärtiges Sein.
Das kann im Vorfeld auch ganz konkret unterstützt werden: durch ein Schmuckstück, einen kleinen Gegenstand in der Tasche oder ein inneres Bild, das uns daran erinnert, wer wir in Wahrheit sind.
Manche Menschen stellen sich auch eine schützende Hülle vor, einen warmen Mantel, ein Licht oder einen sicheren Ort, der sie innerlich umgibt.
Das Schöne ist: je mehr wir lernen, uns anzunehmen, mit all unseren Dynamiken, Prägungen und Anteilen, umso mehr können wir auch das Gegenüber annehmen. Und da, wo wir uns annehmen können, da „menschelt“ es immer noch – aber irgendwie ist das auch schön... oder?
Dann können unsere vielen bunten Landkarten miteinander Weihnachten feiern.
