Warum Kinder Gutenachtgeschichten brauchen

Kinder brauchen Geschichten. Nicht nur zum Zeitvertreib oder gar zur Bespaßung. Geschichten sind essentiell und sollten in Form von Gutenachtgeschichten an keinem Abend fehlen.

Als Vater von zwei Mädchen kann ich mittlerweile auf fast zehnjährige Erfahrung als Gutenachtgeschichten-Vorleser zurückblicken. Es sieht auch nicht so aus, als ob ich in den nächsten Jahren in meiner Funktion als Gutenachtgeschichten-Vorleser meinen wohlverdienten Ruhestand antreten könnte. Denn während anderes schon „uncool“ geworden ist, vor allem bei unserer Großen, gilt das nicht für den allabendlichen Lesemarathon.

Geschichten bereiten Kinder auf die Welt vor

Der Grund dafür ist meiner Meinung nach einfach. Denn entgegen dem Vorurteil, dass Lesen etwas für Realitätsverweigerer und Hobby-Eskapisten sei, ist das Gegenteil der Fall. Mehr Realität als in guten Geschichten geht gar nicht. Geschichten sind komprimierte Realität. Sie bereiten auf das Leben vor und erweitern den Horizont. Wer sich in Erzählungen einfühlt, der verhandelt Konflikte zuerst ganz ohne Risiko, erlebt spannende Situationen und übt in einer Art „Simulation“ ein, welche Handlungen, welche Konsequenzen haben können.

Eine Welt auferstehen lassen

Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich meiner Großen, mittlerweile fast 10 Jahre alt, jeden Abend die gleiche Geschichte vorlesen musste. Andere Texte akzeptierte sie schlicht und einfach nicht. Nach einigen Wochen konnte sie, obwohl sie damals mit etwa vier Jahren noch nicht lesen konnte, die Geschichte in- und auswendig. Sie war in der Lage sie aus dem Stehgreif in allen mögliche und unmöglichen Situationen zu rezitieren.

Das war nicht nur eine enorme Merkleistung, die viele Erwachsenen womöglich nicht auf die Reihe bekommen würden. Man merkte nämlich auch, dass mit dem wortgetreuen Wiedergeben eine ganze Welt präsent wurde. Sie hatte die Welt, die in der Geschichte skizziert und evoziert wird, für sich „abgespeichert“. In dem Moment, in dem der Text vorgelesen oder von ihr dargeboten wurde, betrat sie diese Welt, fühlte sie sich in die Figuren und deren Leben ein und lernte von ihnen.

Was passiert aber, wenn Kinder nicht mehr vorgelesen bekommen?

Sie haben keine „Vorbereitungszeit“ mehr, keinen „Simulationsraum“. Sie müssen „einfach so“ hinaus in die Realität und können nicht mehr zuvor imaginär verhandeln, was sein könnte und was sich ereignen könnte. Natürlich lernen sie das auch beim Beobachten von Eltern und Freunden. Aber die Kraft der Literatur sollte auf keinen Fall unterschätzt werden.

Sich mit Geschichten (wieder) verstehen

Doch warum Vorlesen, auch bis ins „hohe Alter“ der Kinder? Spätestens mit sieben sind Kinder ja meist in der Lage Bücher mehr oder weniger eigenständig zu lesen.

Aus einem guten Grund sollte man dennoch vorlesen. Liest man als Vater oder als Mutter vor, dann durchlebt man gemeinsam Geschichten. Man kann auch gemeinsam über Texte und Ereignisse in ebendiesen sprechen.

Dadurch erlebt man hautnah, wovor sich Kinder fürchten, was sie freut, was sie bedrückt, wo sie noch unsicher sind. Abermals ist die Literatur hier eine Art von Raum, in dem man sich begegnen kann, ohne im konkreten Alltag schnell und möglichst richtig entscheiden zu müssen. Man kann viele verschiedenen Wege ausprobieren, darüber diskutieren, warum diese Person so und nicht anders gehandelt hat, was sie dabei gedacht hat und wie man selbst in diesem Kontext reagiert hätte.

Ein neutraler Ort

Ich glaube, dass das gemeinsame Lesen auch ein Mittel sein kann, um sich besser zu verstehen. Wenn ansonsten die Zeichen auf Sturm, Abschottung und Gesprächsblockade stehen, kann die gemeinsame Lektüre eines guten Textes Druck aus der Situation nehmen. Man begegnet sich wieder – und zwar nicht im oftmals spannungsgeladenen Familienalltag, sondern „anderswo“, an einem neutralen Ort, der uns vielleicht sogar lehren kann, wie wir anders miteinander umgehen könnten.

Ich habe also das Gefühl, dass das Vorlesen von Gutenacht-Geschichten so schnell nicht „uncool“ werden wird. Vielleicht verlagert sich das gemeinsame Lesen bald auf die Nachmittage und unter Umständen heißt es dann auch nicht mehr Gutenachtgeschichten vorlesen. Aber an der Wichtigkeit dieses Rituals möchte ich gerne festhalten. Zumindest habe ich diese Vorstellung.

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