„Mama, manchmal will ich noch nicht groß sein!“ Über das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Verbindung

„Ich habe das Gefühl, du magst gar nicht mehr aufs Klo gehen, kann das sein?“, frage ich meine dreijährige Tochter. „Ja“, sagt sie, „weil ich nicht groß sein mag. Weil, wenn ich groß bin... dann bin ich vielleicht ganz alleine.“

 

Von der „Trotzphase“ zur Autonomie 

Früher hieß sie „Trotzphase“, die Phase ab dem 2. Lebensjahr, in dem „Nein“ zum Lieblingswort der Kinder wird (vorausgesetzt, es kommt von ihnen selbst) und Eltern manchmal das Gefühl haben, alles falsch zu machen. Tatsächlich geht es in dieser Phase um vielmehr als ums „trotzen“, weshalb man mittlerweile wertschätzender von der „Autonomiephase“ spricht. Denn es geht um die Ich- Entdeckung. Es geht darum, den eigenen Willen wahrzunehmen, zuzulassen, und mit diesem in die Welt zu gehen, trotz dem, dass jemand gerade etwas anderes will.

Es geht darum, Dinge alleine zu schaffen, Entscheidungen alleine zu treffen. Es geht um die Kontrolle und das Loslassen. Es geht um Autonomie.

Mit der Autonomie kommt die Angst 

Meine Tochter ist selbst gerade mitten in dieser spannenden Phase. Neben dem Bedürfnis nach Autonomie, konnte ich in den letzten Wochen noch etwas anderes entdecken. Die Angst, durch ihre Autonomie die Verbindung zu mir zu verlieren. Sie will Dinge am liebsten ganz alleine schaffen und gleichzeitig macht genau dieses „alleine“ manchmal Angst: „Mama, ich will (manchmal) nicht groß sein.“


Autonomie, Selbstständigkeit, Dinge „alleine“ können, bedeutet eben auch oft, sie alleine zu machen. Und das ist erstmal neu. Und steht dem Bedürfnis nach Verbindung entgegen. Solange Kinder sich noch nicht alleine anziehen können, machen wir das mit ihnen, begleiten sie dabei – sie erleben dabei Verbindung und liebevolle Zuwendung. Sobald sie es aber selbst können und wollen, tun sie diese Dinge alleine. Das kann auch mal Angst machen. Angst, die Zuwendung, die Aufmerksamkeit, kurz: die Verbindung zu verlieren. Wie viel Beziehung ist noch da, wenn ich alles alleine kann – und welche Art von Beziehung?

Verbindung ist, neben der Sicherheit und der Autonomie, eines der drei wichtigsten Grundbedürfnisse von Kindern.

Und gerade die beiden Bedürfnisse nach Autonomie und Verbindung stehen sich oft konträr gegenüber: Wenn ich meine Integrität, mein Person-Sein lebe, falle ich (vermeintlich) erst einmal aus der Verbindung, in einen „leeren“ Raum, der erst gefüllt werden will. Auch Erwachsene kennen das: die Angst davor, eine Beziehung zu verlieren, wenn wir unsere Integrität wahren, wenn wir „Nein“ sagen. „Nein danke, ich brauche heute Zeit für mich.“ Wie schwer fallen uns Sätze wie diese, weil sie zwar unsere Autonomie und Integrität wahren, aber vielleicht einen Verlust der Verbindung bedeuten?


Diese Spannung zwischen Autonomie und Verbindung erzeugt in Kindern ein permanentes Spannungsverhältnis - das sich u.a. in den wohlbekannten Trotz-, Wein- und Wutanfällen entlädt.

Kann ich das schon, was ich will? Will ich, was ich kann? Und wenn ich mal nicht will, was ich eigentlich kann – was ist dann?


Wir Erwachsenen gehen so sehr davon aus, dass unsere Kinder ganz automatisch groß sein wollen - was ja auch meistens zutrifft -, dass wir vergessen, dass es manchmal eben auch Angst machen kann, groß zu werden. Wir ärgern uns über „Rückschritte“, wenn unsere großen Kinder, die „das doch schon längst können“ auf einmal wieder babyhafter werden, Dinge nicht mehr „funktionieren“, die schon mal funktioniert haben. Wir denken dann vielleicht, dass wir versagt haben und sind unsicher, wie wir reagieren sollen.

Dabei drücken unsere Kinder vielleicht einfach auf ihre Art und Weise aus, dass groß sein manchmal auch Angst und Druck macht. Und dass sie dann einfach eine Umarmung brauchen und die Zusicherung, dass wir immer für sie da sind.


Es geht nicht um das  Funktionieren

Und es zeigt auch nicht unsere elterliche Leistung, wenn unser Kind es zum Beispiel schafft, aufs Klo zu gehen oder den Schnuller abzugeben. Sondern es ist ihr Prozess, den wir - in Verbindung mit ihnen - begleiten dürfen. Und ein Prozess verläuft selten linear, sondern meistens in Wellen.


Was können wir nun tun, um sie in diesem Prozess liebevoll zu begleiten?

Wir können sie auffüllen mit Liebe und Verbindung – also mit Beziehungsmomenten, mit Momenten, in denen sie sich gesehen, geliebt und ernstgenommen fühlen. Hier braucht es, wenn zum Beispiel das Windel wechseln, das Waschen und das Anziehen wegfallen, vielleicht auch neue Kanäle, neue „Verbindungszeiten“: Bücher vorlesen, Geschichten erzählen, gemeinsam kochen, backen, Wäsche zusammenlegen, basteln.

Verbindung kann auch ein liebevolles Lächeln, ein Augenkontakt sein. Verbindung ist jedes begleitete starke Gefühl, jedes Gespräch, in dem wir wirklich zuhören und präsent sind. Wenn Kinder sagen, dass sie nicht groß sein wollen, darf dieses Gefühl, diese Unsicherheit vor dem Neuen auch einfach mal da sein: liebevoll annehmen, nicht sofort ins Lösung- suchen gehen. Ja, es kann Angst machen und das ist in Ordnung. Bei uns können sie dann Liebe und Geborgenheit tanken und damit wieder mutig in die Welt gehen.

Gemeinsam überlegen 

Wenn es immer wieder vorkommt, oder das Kind sehr belastet, können Eltern auch mit dem Kind zusammen überlegen, was alles toll am „groß sein“ ist, vielleicht eine Plakatwand dazu malen oder basteln, Erlebnisse sammeln. Oder ihr könnt gemeinsam überlegen, wie in den autonomen Handlungen trotzdem Verbindung da sein kann, z.B. mit einer Schnur - das eine Ende hält der Elternteil, der unten am Sofa sitzt, das andere Ende hält das Kind, das oben alleine einschlafen möchte.


Aus meiner Erfahrung aber braucht es vor allem das liebevolle Annehmen dieser Unsicherheiten und das Verständnis, dass es manchmal Angst machen kann, aus der
Verbindung zu fallen – und der Rest kommt auf dieser Basis von ganz alleine und eben in Verbindung.

Denn in dieser Verbindung sind wir, wenn wir ganz bei unserem Kind sind und es annehmen und lieben, wie es ist.

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Ein Artikel von

Portraitfoto Barbara Grütze

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