Kindliche Förderung vorantreiben oder doch einfach nur Vorbild sein?

Wenn man die Lebenswege der Kinder nämlich genauer anschaut, so zeigt sich, dass Kinder auf Schritt und Tritt eine Art „Eigen-Förderung“ betreiben - sie spezialisieren sich von sich aus auf die Dinge, die ihnen besonders liegen und die sie besonders interessieren.

Neben dem „Grundrepertoire“ müssen Kinder aber auch spezielle Kompetenzen und Wissensinhalte erwerben, die ihnen helfen, die Herausforderungen ihres besonderen, von Kultur zu Kultur, von Generation zu Generation, von sozialer Schicht zu sozialer Schicht unterschiedlichen Lebens zu meistern. Dieses zweite Gleis des Lernens macht  die Kinder fit für die unverwechselbare Umwelt, in der sie jeweils leben. Das eine Kind muss lernen, wie es am besten ein Gürteltier erlegt. Das andere, wie es den Kopierschutz auf einer DVD knackt. Das eine Kind muss sich auf der Straße durchschlagen, das andere auf einer Eliteschule. Jedes Kind bringt auf seinen Weg zudem noch eine eigene, unverwechselbare Persönlichkeit mit – eigene Begabungen, eigene Interessen, einen eigenen Charakter, eigene Ressourcen, eigene Hemmnisse, die alle sein Lernen mit beeinflussen.

Dieses Gleis läuft nicht einfach aus der Intuition heraus ab. Je spezieller und individueller die zu erwerbenden Fertigkeiten, desto eher kommen jetzt Übung, Anstrengung und Schweiß ins Spiel. Ist dieses Gleis das Terrain für Förderung? Spielen hier die Eltern, Lehrer und Vorbilder die erste Geige?

Soziales Lernen als Eigenleistung

Es ist komplizierter. Denn auch hier lernen Kinder nicht einfach von oben nach unten, sie müssen vielmehr selbst am Steuer sitzen. Tatsächlich wissen wir heute, dass das soziale Lernen, um das es hier geht, im Grunde eine Eigenleistung des Kindes ist. So folgen Kinder beispielsweise nicht einfach jedem Vorbild (auch nicht wenn es sich dabei um die Eltern handelt), sie tun das vielmehr nur, wenn das Vorbild  im Rahmen einer funktionierenden Beziehung und verbunden mit positiven Emotionen (Begeisterung, Freude) angeboten wird.

Nur mit positiver Assoziation kann man Vorbild sein. 

Auch zeigt sich, dass viele Modelle nur durch „Probehandeln“ im Spiel übernommen werden können. Wer meint, dass Spielen nichts mit Üben, Schweiß und Anstrengung zu tun hat, hat Kinder nicht beim Spiel beobachtet – Spielen bedeutet für Kinder harten Einsatz, nicht selten verbunden mit Grenzerfahrungen. Und vergessen wird  auch oft, dass jede Anregung und Anleitung von außen nur dann wirkt, wenn sie auf die Begeisterung der Kinder treffen -  wenn das Angebot also zu den Neigungen, Talenten und der Persönlichkeit des Kindes passt. Auch die intentionale Förderung ist sozusagen Hilfe zur Selbsthilfe.

Förderung funktioniert nur, wenn das Kind dabei begeistert ist! 

Wenn man die Lebenswege der Kinder nämlich genauer anschaut, so zeigt sich, dass Kinder auf Schritt und Tritt eine Art „Eigen-Förderung“ betreiben - sie spezialisieren sich von sich aus auf die Dinge, die ihnen besonders liegen und die sie besonders interessieren. Viele Schriftsteller etwa haben nie besondere Förderungsprogramme oder besonders gute Schulen durchlaufen und sie sind auch nicht speziell zum „Üben“ angehalten worden. Sie haben einfach das getan, was ihnen Befriedigung gab – echte Spezialbegabungen sind in der Tat  „Triebe“. Auch unter den Beatles war keiner, der von seinen Eltern zum Üben verdonnert  oder in spezielle Musikförderungsprogramme gesteckt worden wäre. Überhaupt lesen sich überraschend viele Biographien von herausragenden Menschen wie eine Karikatur dessen was wir unter „Förderung“ abgespeichert haben: die speziellen Programme, der spezielle Einsatz der Eltern, die speziellen Techniken...

Das Motto: „Je mehr Förderung – desto mehr Ertrag“ greift also auch auf dem zweiten Gleis der kindlichen Entwicklung zu kurz, denn einen Ertrag kann ein Kind nur ernten, wenn der Einsatz von ihm selber kommt, aus seinem eigenen Nährboden.

Das heißt natürlich nicht, dass die Eltern bei der Förderung nicht wichtig wären. Schließlich bieten sie den wichtigsten Rückenwind an, den es für das Lernen überhaupt gibt:  sichernde, ermutigende, authentische BEZIEHUNGEN – das was der Volksmund auch als „Kinderstube“ oder „Elternhaus“ bezeichnet. Und die anderen Zugaben – Anleihen auf den eigenen Status, materielle Ressourcen, die mit dem Elternhaus verbundenen sozialen Netze etc. - sind natürlich auch nicht zu verachten.

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Je früher fördern, desto besser?

Wie das Beispiel der Sprache zeigt, scheint die Ausbildung der menschlichen Grundkompetenzen von speziellen frühen Trainingsprogrammen nicht zu profitieren. Auch die meisten Spezialbegabungen bilden sich nicht umso vollständiger oder perfekter aus je früher sie aufgestachelt und geübt werden. Albert Einstein ist im Kindergarten nicht mit dem Rechenschieber dagesessen. Und die meisten Schriftsteller haben mit dem Dichten und Schreiben erst nach der mittleren Kindheit begonnen. Bei anderen Begabungen dagegen ist frühes Üben unerlässlich, wenn wirklich Weltklasse-Niveau erreicht werden soll – das gilt etwa für Ballett, Gymnastik oder auch bestimmte feinmotorische Kompetenzen wie Geigen-Spielen. 

Förderung neu gedacht

Fassen wir zusammen. Die Entwicklungsaufgaben der Kinder fallen in zwei Kategorien: der Erwerb der grundlegender Lebenskompetenzen sowie die Spezialisierung auf kulturspezifische bzw. individuelle Fertigkeiten. In der ersten Kategorie liegt das Prinzip der  Förderung darin, dass das Kind die normalen, evolutionär vorgesehenen, „artgerechten“ Entwicklungserfahrungen machen kann. In der zweiten Kategorie spielen darüber hinaus spezielle Lernangebote eine Rolle, die das Kind aber nur nutzen kann, wenn  es ein gutes Persönlichkeitsfundament hat und wenn es selbst mit Begeisterung am Ruder sitzt. Kinder, die ohne leuchtende Augen üben, landen mit verlässlicher Regelmäßigkeit in der Sackgasse: viel Spaß mit der höheren Mathematik, wenn man mit sich selber nicht klar kommt...

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Ein Artikel von

Portraitfoto Herbert Renz-Polster

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