Inklusion in Kindergarten und Schule - Schnapsidee oder genialer Einfall?

Warum es Zeit wird, dass die Politik handelt was die Inklusion in Kindergarten und Schule betrifft.

Inklusion - eine Idee mit Haken?

Inklusion. Eine tolle Idee - auch aus christlicher Sicht - und doch für viele ein Begriff mit schalem Beigeschmack. Denn nicht alle Eltern erleben Inklusion als positiv, ebenso nicht alle Lehrer oder Kindergartenpädagogen. Immer wieder bin ich mit verschiedenen Menschen im Gespräch, die mir erzählen, dass Inklusion, also das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung, traurigerweise oft von Nachteil ist für Kinder ohne Behinderung und eine zusätzliche Belastung für die Pädagogen. Nach dem Motto: “Der Einzelne profitiert davon, die anderen leiden darunter.”

Aber warum ist das so? Ist die Idee der Inklusion selbst eine Schnapsidee oder liegt es an der Umsetzung?

Grund Nr. 1: Das leistungsorientierte Bildungssystem

Unser Schulsystem ist sehr stark auf Leistung und die Vermittlung von Information und weniger auf ganzheitliche Entwicklung ausgerichtet. Wenn es rein um Leistung und das Vermitteln von möglichst viel Wissen in möglichst kurzer Zeit geht, dann stören Kinder, die langsamer sind oder besondere Bedürfnisse haben.

Aber ist Leistung wirklich unser wichtigstes Ziel?

Grund Nr. 2: Ein überlastetes Schulsystem

Ein zweiter Grund für diese aktuelle Schieflage ist die Überlastung unseres Schulsystems. Große Klassen, wenige Pädagogen, gestiegene und sich ständig verändernde Anforderungen - klar, dass da die Lehrer aufschreien. Wie sollen sie da noch zusätzliche Verantwortung schultern?

Grund Nr. 3: Ein überlastetes Familiensystem

Die Mütter der jetzigen Zeit sind die erste Generation, die Kinder nicht nur mit der Doppel-BE-lastung von Familie und Erwerbstätigkeit großziehen muss, sondern häufig auch mit der fehlenden ENT-lastung durch Großeltern. Denn heutzutage sind sowohl die Großmütter als auch die Mütter erwerbstätig.

Die familiäre Entlastung fehlt.

Durch die Überlastung der Familie haben Eltern kaum Zeit, die Kinder selbst schulisch zu fördern. Sie müssen sich völlig auf die Pädagogen verlassen und begegnen möglichen Störungen dieses fragilen Systems daher schneller mit Angst. Aber ist diese Angst wirklich berechtigt?

Warum Inklusion keine Schnapsidee ist

Bei so vielen Problemen könnte man zur Schlussfolgerung kommen, dass Inklusion eine “Schnapsidee” ist.

Meine Meinung: Weit gefehlt!

Denn Inklusion ist nicht das Problem,  sondern unser Gesellschafts-, Schul- und Familiensystem.

Gegenargument 1: Inklusion ist nicht das Problem, sondern Teil der Lösung

Warum?  Inklusion kann uns allen helfen, denn es zwingt uns dazu, das Leistungsdenken einmal beiseite zu lassen und den Menschen ganzheitlicher zu sehen. Denn unter unserem stark leistungsorientierten Bildungssystem leiden alle Kinder (und auch die Eltern, nebenbei bemerkt) -  aber an Kindern mit besonderen Bedürfnissen wird das besonders stark sichtbar. Sie führen uns die Fehler unseres Schulsystems deutlich vor Augen und zwingen uns dazu, umzudenken und neue Lösungen zu suchen und zu finden.

Ein Bildungssystem, in dem Menschen Mensch sein dürfen

Inklusion kann uns helfen, unser schwerfälliges Bildungssystem von einem leistungsorientierten System hin zu einem menschenorientierten System weiterzuentwickeln.

Von einem kapitalistischen System, das mit möglichst wenig Kosten möglichst viele Kinder ausbilden will, zu einem, das die ganzheitliche Bildung und Begleitung der nächsten Generation als die wertvollste Investition überhaupt (an-)erkennt. Von einem System, das an alle Kinder den gleichen Maßstab anlegt, als wären sie Roboter, zu einem System, in dem Kinder mit ihren persönlichen Schwächen und Stärken sein dürfen und geschätzt werden. Hin zu einem Bildungssystem, in dem Menschen einfach Mensch sein dürfen. Und zwar nicht nur die Kinder - sondern auch die Lehrer.

Gegenargument 2: Inklusion fördert soziale Kompetenzen

In Zeiten von Robotern und Artificial Intelligence sind soziale Kompetenzen, Mitgefühl und echte Freundschaften wichtiger denn je, denn sie unterscheiden uns von der künstlichen Intelligenz. Die sozialen Kompetenzen sind es, die zukünftig am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft am meisten benötigt werden - denn (fast) alles andere können Technik & AI schon bald übernehmen.

Die Bibel sagt: “Wie man Eisen durch Eisen schleift, so schleift ein Mensch den Charakter eines anderen.” (Sprüche 27,17).

Diversität im Klassenraum fördert das Erlernen wichtiger sozialer Kompetenzen wie beispielsweise Rücksichtnahme, Verständnis für andere, Einfühlungsvermögen, Hilfsbereitschaft, echte Freundschaft und Zusammenarbeit trotz Unterschieden. Kinder mit besonderen Bedürfnissen sind daher (aber nicht nur deshalb!) eine riesengroße Bereicherung für jede Klassengemeinschaft (vgl. Tobias Buchner, 03.10.2023)

Von der Gefahr, auf der anderen Seite des Pferdes herunterzufallen

Aber Achtung: So wahr und gut diese beiden Argumente auch sind - sie sind unvollständig und bergen die Gefahr, erst recht wieder auf der anderen Seite des Pferdes herunterzufallen. Denn Kinder mit besonderen Bedürfnissen nun wiederum nur als wertvoll für die Klassengemeinschaft zu betrachten, weil sie zur Charakterbildung anderer Kinder beitragen oder uns die Fehler des Schulsystems aufzeigen, wäre furchtbar traurig und im Grunde genommen auch wieder nichts anderes als leistungsorientiertes Denken. So hilfreich diese beiden Perspektiven und Argumente daher auch sein mögen, um Politik und Gesellschaft von Inklusion zu überzeugen - noch viel wichtiger ist die biblische Perspektive!

Gegenargument 3: Eine biblische Perspektive zu Inklusion

Biblisch gesehen sind Kinder mit und ohne Behinderung, große und kleine, dicke und dünne, sportliche und unsportliche, reiche und arme - schlicht, ALLE Kinder - wertvoll und wunderbar, weil GOTT sie geschaffen hat.

Jeder Mensch ist wertvoll.

Jeder Mensch hat das Recht auf einen Platz in dieser Welt - völlig unabhängig von seiner Leistung. Einfach, weil GOTT selbst es so entschieden hat. Und wer wären wir, dem Schöpfer dieser Erde, dem heiligen Gott, zu widersprechen? Kein Mensch ist ein Zufallsprodukt, jeder einzelne ist von Gott gewollt. Mein Wert, meine Würde und meine Selbstannahme - sie entspringen aus Gott und sind nicht abhängig von der Beurteilung anderer Menschen. Was für ein Schatz!

Aus biblischer Sicht ist Inklusion daher wichtig und richtig. Weil jeder Mensch in Gottes Augen wertvoll ist und weil Gott möchte, dass wir unseren Nächsten lieben, wie uns selbst - ihm also auch die gleichen Chancen geben wie uns selbst. Auch im Leben von Jesus sehen wir, wie wichtig Gott die Benachteiligten, Ausgegrenzten und Minderheiten der Gesellschaft sind. Er verbrachte oft Zeit mit ihnen, ging auf sie zu, bezog sie mit ein.

Jesus lebte Inklusion wie kein anderer.

Fazit: Inklusion ist keine Schnapsidee, sondern richtig und gut - sowohl aus biblischer als auch aus weltlicher Perspektive.

Was aber braucht es, damit Inklusion gelingen kann?

Das Recht auf Inklusion wurde 2008 mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich gesetzlich geregelt. Die notwendigen Voraussetzungen für gelingende Inklusion im Bildungssystem wurden jedoch bisher nur unzureichend geschaffen (vgl. Der Standard, 19.06.2023)

Langfristige Lösungen müssen alle Bedürfnisse berücksichtigen

Inklusion ist wenig inklusiv, wenn sie nur halbherzig umgesetzt wird. Halbherzig unter anderem, weil nicht alle Bedürfnisse berücksichtigt wurden. Beispielsweise das Bedürfnis der Pädagogen nach Unterstützung und Entlastung, das doch die Voraussetzung ist für gelingende Inklusion. Auch das Bedürfnis der Eltern - ALLER Eltern - nach der Sicherheit, dass die Pädagogen ausreichend Zeit für ihr Kind haben, muss gesehen werden. Nur dann ist in unserem Bildungssystem nämlich Zeit und Platz für echte integrative Teilhabe - nicht als Belastung, sondern als Bereicherung.

Und daran scheitert es wohl am meisten: Zeit.

Zeit für jedes Kind, sich in seinem Tempo entwickeln zu dürfen.

Zeit für die Lehrer, um sich jedem Schüler widmen zu können. Weg von der Quantitäts-Orientierung, hin zur Qualitäts-Orientierung. Schon seit Jahren fordern Eltern wie auch Pädagogen eine gründliche Reformation unseres Bildungssystems - doch verändert hat sich bisher nur wenig.

Information versus Transformation - ein jahrtausendealter Kampf

Spannenderweise gab es dieses Spannungsfeld zwischen verschiedenen Herangehensweisen des Lernens bereits zu Zeiten der Bibel. Zu Zeiten Jesu war es üblich, dass ein Lehrer, genannt “Rabbi”, eine Gruppe Schüler unterrichtete - aber nicht nur in theoretischem Wissen, sondern auch in praktischen Belangen des alltäglichen Lebens. “Jüngerschaft”, nannte man diese Art des Lernens, die nicht nur Wissensvermittlung, sondern auch Charakterbildung beinhaltete. Während das “Schulsystem” der Juden auf Transformation, also ganzheitliches Lernen und Veränderung des ganzen Menschen ausgerichtet war, war das griechische “Schulsystem” mehr auf Information, also Wissensvermittlung, ausgerichtet. Unser Schulsystem setzt ebenfalls mehr auf Information als Transformation. Ob das sinnvoll ist? Schließlich zählt nicht nur, was wir im Kopf haben, sondern auch, wie unser Herz tickt!

Dankbar für unser Schulsystem

Trotz aller Kritik bin ich dankbar für unser Schulsystem. Ich selbst durfte dadurch eine gute Ausbildung und Förderung bekommen. Leider musste ich aber auch miterleben - innerhalb meiner Familie und bei Freunden - dass unser Schulsystem nicht für jeden geeignet ist und das zu sehr viel Leid führen kann. Ich wünsche mir von Herzen, noch zu meinen Lebzeiten erleben zu dürfen, dass sich das ändert - dass das Schulsystem flexibler wird, um Kindern in ihrer Einzigartigkeit gerecht zu werden.

Veränderung ist möglich

Die gute Nachricht ist: Veränderung IST möglich. Es gab früher und gibt auch heute noch Bildungssysteme, die anders funktionieren als unseres. So manche Privatschulen leben auch in Österreich bereits neue, gut funktionierende Bildungswege vor. Diese nun auch für die breite Masse leistbar zu machen bzw. die neuen Erkenntnisse auch in die staatlichen Schulen zu übernehmen, ist nun Aufgabe unserer Generation.

Plädoyer: Damit Inklusion gelingen kann, braucht es nicht nur das Lippenbekenntnis der Politik zu Inklusion - es müssen auch die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen werden! Es ist Zeit für kleinere Klassen, mehr Pädagogen und Mut zu neuen Bildungswegen!

Zum Weiterlesen: Mehr gute Gründe für Inklusion im Bildungswesen sowie wissenschaftliche Studien dazu finden Sie hier.

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