„Das Gewicht nicht zum Streitthema machen“ - Wie Eltern ihre übergewichtigen Kinder beim Abnehmen unterstützen können

Übergewicht und Adipositas im Kinder- und Jugendalter können schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben. Die Ernährungswissenschaftlerin und Adipositastrainerin Michaela Ehrenberger erklärt, wie Eltern ihr Kind beim Abnehmen unterstützen können.

Frau Ehrenberger, wann spricht man davon, dass ein Kind übergewichtig ist? Und warum sind zu viele Kilos problematisch?

Ärztinnen und Ärzte tragen von Beginn an Größe und Gewicht eines Kindes in eine Perzentilkurve ein, um zu sehen, ob sich ein Kind dem Alter entsprechend entwickelt. Daraus ergeben sich gute Vergleichswerte. Die 50. Perzentile stellt dabei den Durchschnittswert dar. Ab der 90. Perzentile spricht man von Übergewicht, ab der 97. von Adipositas, das bedeutet 90% oder 97% der Gleichaltrigen sind leichter oder kleiner als das Kind.

Adipöse Kinder haben ein höheres Risiko, an Diabetes, Bluthochdruck oder dem metabolischen Syndrom (Übergewicht, Bluthochdruck, Fett- und Zuckerstoffwechselstörungen) zu erkranken. Außerdem sind sie häufig Mobbing und Stigmatisierungen ausgesetzt, was zu psychischen Problemen führen können.

Was sollen Eltern tun, die den Eindruck haben, ihr Kind sei zu dick?

Nimmt ein Kind schnell ohne ersichtlichen Grund zu, sollten sie ärztlich abklären, ob es dafür körperliche Gründe gibt. Ist die Gewichtszunahme konstant, liegt es wohl an zu wenig Bewegung und nicht kindgerechter Ernährung. Auf jeden Fall sollten Eltern ihr Kind immer ganz normal behandeln, ihm Liebe und Wertschätzung vermitteln. In vielen Familien wird das Gewicht leider zu einem Streitthema, was wiederum für emotionalen Druck sorgt und das Abnehmen verhindern kann.  

Es ist immer mitzubedenken, dass es in sehr vielen Fällen psychische Gründe für das Essverhalten gibt.

Diesen gilt es, auf den Grund zu gehen. Eltern können sich fragen, ob es ein emotionales Problem gibt, ob sie genügend Zeit mit ihrem Kind verbringen, oder ob es sich durch Frustessen – weil es in der Schule gemobbt wird – positive Gefühle holen will.

Essen soll von Anfang an möglichst entspannt und zwanglos sein. Was raten Sie Eltern?

Essen ist eigentlich nie neutral. Das beginnt schon im Babyalter: Bereits die ganz Kleinen zeigen durch das Wegdrehen des Kopfes, dass sie keinen Hunger mehr haben. Eltern sollen das nicht ignorieren und weiterfüttern. Oder wenn die Mama besonders stolz auf das Kind ist, weil es viel isst, dann hat das einen Einfluss. Ebenso wenn Eltern sehr darauf bedacht sind, dass sich das Kind nicht bekleckert und es ständig abwischen. Da lernt das Kind, dass es nicht ‚normal‘ essen darf.

Permanent Übergewicht und Gewichtsabnahme zu thematisieren, ist vermutlich kontraproduktiv. Wie können Eltern ihr Kind beim Abnehmen unterstützen?

Auch wenn es schwierig ist: Eltern sollten beim Essen entspannt bleiben. Was sie darüber hinaus tun können, ist, die Essensgewohnheiten in der Familie hinterfragen und verändern. Zucker reduzieren, das bedeutet etwa weniger Softdrinks und stattdessen hauptsächlich Wasser trinken. Auf Platz eins der Lebensmittel, die dick machen, stehen Softdrinks, weil sie keine Nähr- und Ballaststoffe enthalten, dafür aber den Blutzuckerspiegel sehr stark und schnell ansteigen lassen.

Wenn möglich sollte frisch gekocht werden, zumindest sollten Fertigprodukte mit frischen Lebensmitteln aufgewertet werden. Fertigpizza kann zum Beispiel mit frischem Gemüse und Salat mit wichtigen Vitaminen und Mineralstoffen aufgewertet werden. Unabhängig davon, ob ein Kind übergewichtig ist oder nicht: Gemeinsames Kochen und genussvolles Essen sind in jeder Familie wichtig.

Essen sollte nicht nebenbei, beim Fernsehen oder am Handy, passieren. Süßigkeiten sind erlaubt, wenn sie bewusst und mit Genuss gegessen werden. Auf jeden Fall ohne schlechtes Gewissen, weil das wiederum Stress erzeugt.

Eltern sollten natürlich auch ihr eigenes Essverhalten hinterfragen. Wenn sie sich mit Essen belohnen, sich ungesund ernähren, macht es ihnen ihr Kind nach.

Bewegung ist ein wichtiger Pfeiler beim Abnehmen. Wie kann sie gut in den Alltag integriert werden?

Wichtig ist, dass sie wirklich alltäglich und regelmäßig stattfindet. Das können Sportkurse sein, aber auch kleine Spiele wie ‚Zeig mir mal, wie schnell du da nach vorne laufen kannst!‘ Oder ‚Schauen wir mal, ob wir schneller als der Lift die Stiegen raufgehen können!‘.

Auf Spielplätzen sehe ich immer wieder Eltern, die sehr ängstlich sind und dadurch auch die Kinder gewisse Dinge aus Angst nicht mehr tun möchten.

Es kann schwierig für Eltern sein, ihr Kind zu ermutigen. Es ist aber notwendig, damit Kinder lernen, was sie sich zutrauen können. In unseren Kursen sehen wir oft Kinder, die bestimmte Übungen nicht schaffen, aber weniger aufgrund ihres Übergewichts, sondern weil ihnen das Selbstvertrauen fehlt. Sie brauchen Ermutigung und keine Bewertung.

Kann das Pendel beim Abnehmen nicht in die andere – ebenso bedenkliche – Richtung ausschlagen und zu Essstörungen führen?

Das ist natürlich möglich. Problematisch ist, wenn Kinder, die abnehmen auf einmal von allen Seiten viel Lob dafür bekommen. Dann fühlen sie sich zum ersten Mal richtig gut und haben den Eindruck, ihr Gewicht unter Kontrolle zu haben. Deswegen ist es immer wichtig, sich auch die psychologische Ursache von Übergewicht anzuschauen und sich gemeinsam mit dem Kind damit auseinander zu setzen. Denn nur weil jemand abnimmt, verschwinden die psychischen Probleme ja nicht.

Michaela Ehrenberger, Ernährungswissenschaftlerin und Adipositastrainerin sowie angehende Diätologin, arbeitet bei ‚Starke Freunde‘ (www.starkefreunde.at) mit übergewichtigen Kindern und Jugendlichen und deren Eltern.

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