Aus dem Tagebuch: Wie ich lernen musste, mein zweites Kind kennenzulernen

Als unsere Tochter zur Welt kam, war unser Sohn fast 4 Jahre alt. Ein Einzelkind, könnte man sagen. Wir waren es gewohnt, nur ihn zu haben und wussten, neue Herausforderungen kommen auf uns zu. Dennoch war ich überwältigt, als ich bemerkte, dass ich fast bei null beginnen muss…

Ich muss schon ehrlicherweise sagen, dass ich bereits vor meinem ersten Kind zahlreiche Erfahrungen mit Babys hatte. Da waren meine drei Neffen und eine Nichte, bei denen ich teilweise schon direkt nach der Geburt dabei war und meinen Schwestern half. Inklusive Nachtschichten schieben, wickeln, Flaschi machen und herumtragen, bis das Baby schläft… Und dann war da noch das eine Jahr als Au-Pair-Mädchen in einer Familie, die gerade ihr drittes Kind bekommen hat.

Ich wusste also schon lange vor der Gründung meiner Familie, was es heißt, ein Baby zu bekommen.

Umso mehr war ich dankbar, als unser Bub auf die Welt kam und ich bemerkte, wie pflegeleicht er war. Klar, er hat alle zwei Stunden trinken wollen - egal ob nachts oder tagsüber. Und ja, auch er hatte seine Bedürfnisse, aber er schrie so gut wie nie, weil ich seine Bedürfnisse oft schnell erkannte, noch bevor er schreien musste.

Er war auch später ein ruhiges Kind.

Eher ein Beobachter, der sich Spielzeug von anderen Kindern wegnehmen ließ und sich nie wehren konnte. (Kaum zu glauben, wenn ich ihn jetzt sehe, denn nun ist er immer der Lauteste. Aber das ist eine andere Geschichte…)

Seine „Trotzphase“ war auch irgendwie süß und er ließ sich immer ganz schnell ablenken. Wir haben ihn immer und überall mitgenommen und in unser Leben integriert, was er super angenommen hat und nie Probleme mit Reizüberflutung oder zu vielen Menschen hatte. Und dann kam unsere Tochter…

Laut, lauter, unsere Tochter

Ich habe schon im Kreißsaal bemerkt, da kommt etwas Neues auf uns zu. Und zwar so richtig anders, als wir es bisher kannten… Die kleine Dame – kaum auf der Welt angekommen – hat schon laut Bescheid gegeben, dass sie nun für ihre erste Portion Milch bereit wäre. Ab dem ersten Moment trank sie gefühlt ununterbrochen, was für mich eine neue Erfahrung war. Denn der Große war ein Frühchen, trinkfaul und von Stillen konnte nie die Rede sein. Ich war schon froh, wenn ich ihn zum Fläschchen motivieren konnte.

Unsere Raupe Nimmersatt

Also unsere Raupe Nimmersatt war nun da und hat mich zu ihrer ewigen Quelle der Nahrung erklärt. Auch hat sie immer ganz laut gemeldet, wenn ihr etwas nicht passte. Und zwar bevor ich überhaupt die Chance bekommen hätte zu bemerken, dass ihr etwas fehlen könnte… Bereits in der ersten Nacht hat sie mich immer wieder laut aus dem Schlaf geholt und ich fühlte mich jedes Mal so überwältigt, da ich es nicht gewohnt war.

Ich hatte meine Vorstellungen, wie so ein Baby „funktioniert“ und meine Kleine hat mir ziemlich schnell gezeigt, dass ich meine Erwartungen schön zurückschrauben soll…

(K)ein Rezept für alles

Anfangs dachte ich, das ist jetzt so, kurz nach der Geburt. Das legt sich wieder und alles wird laufen, wie gewohnt. Aber nein. Es kam alles anders. Aber nicht nur negativ. Meine Tochter schlief von Anfang an auf mir. Bei meinem Sohn hatte ich Angst ihn im Schlaf zu verletzten, aber bei ihr war ich schon eine erfahrene Mama und traute mir das zu. Vielleicht kam es auch deshalb so oft vor, dass sie bis zu 7 Stunden am Stück schlief und ich komplett erholt aufgewacht bin. Und dann gab es die Schattenseiten.

Wir haben das Wochenbett sehr gut für uns genutzt und absolut keine Besuche empfangen. Pandemie sei Dank gab es da auch keine großen Diskussionen. Kurz nach dem Wochenbett, welches ich wirklich überwiegend im Bett oder am Boden vor dem Bett verbrachte (wenn ich mit meinem Sohn spielte), habe ich beschlossen, einen Abend im Wohnzimmer ohne meine Tochter zu verbringen.

Ich habe es beschlossen – sie war dagegen. Alle 20 Minuten hat sie mich gerufen. Ich dachte, das wäre eine Ausnahme.

Aber das ging weitere drei Monate so. Zum Glück hat mir eine andere Mama Hörbücher empfohlen und so blieb ich einfach Abend für Abend spätestens nach dem zweiten Rufen bei meiner Tochter liegen und hörte Bücher, die ich schon lange lesen wollte.

Ich habe mir auch vorgenommen, jeden Abend meinen Sohn hinzulegen, damit er seine Exklusivzeit mit der Mami hat. Auch da war meine Tochter ziemlich dagegen.

Beim Papi bleiben? Sicher nicht. Sie schrie und schrie, bis ich kam.

Mein Mann dachte auch, er würde schon die Tricks kennen, die bei unserem Sohn funktioniert haben. Aber Pech gehabt. Die kleine Dame war da einer anderen Meinung.

Neuer Mensch – neue Erfahrungen

Abendliches Schreien, bei dem kaum was half, war für uns auch neu und sehr anstrengend. Dass sie sehr oft gewickelt werden musste, weil sie sonst sofort wund war, musste ich ebenfalls schnell lernen. Und ihre Abwehrkräfte! Sie hat wirklich jede Krankheit abbekommen und immer im vollen Umfang ausgelebt. Während unser Sohn eher der Typ „ein Tag Fieber“ war, hat sie gerne fünf Tage ohne jegliche Verbesserung jede Krankheit mitgemacht.

Nur wenige Wochen war sie auf der Welt-  schon habe ich angefangen meine Erwartungen zu vergessen und lernte die Kleine einfach neu kennen.

Ich suchte nach neuen Tricks, die wirkten. Denn ich habe recht schnell gemerkt - da ist ein komplett neuer Mensch vor mir.

Heute liebe ich diese Unterschiede zwischen meinen Kindern. Während der Große eher aufbrausend ist und sich dafür schnell beruhigen lässt, kann meine Tochter fünf Minuten beleidigt am Boden liegen und sich von uns beschwichtigen lassen. Während mein Sohn in ersten zwei Jahren nur mich beim Einschlafen, Krankheiten oder beim Trösten akzeptiert hat, ist unsere Tochter oft so ein Papakind, dass ich mich manchmal überfordert fühle mit so viel Freiheit, wenn sie zu ihrem Papa rennt, anstatt zu mir. Und während mein Sohn noch heute, mit fast sechs Jahren, sehr viel kuschelt und beim Einschlafen sehr viel Nähe braucht, dreht sie sich einfach weg, schiebt meine Hand zur Seite und schläft in Ruhe ein.

Ich hatte meine Vorstellungen. Diese musste ich über Bord werfen, um zu lernen, dass wir als Eltern täglich von unseren Kindern in neue Richtungen gelenkt werden. Und das ist auch gut so.

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