Beziehung ohne Strafen – (wie) kann das funktionieren?

Strafen sind seit Jahrhunderten ein fester Bestandteil der Kindererziehung. Von der Prügelstrafe, dem Rohrstock, bis hin zum Klaps auf dem Po galten Letztere noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein als vollkommen „normal“ – ja, sogar der Rohrstock.

„Moderne“ Strafen haben im 21. Jahrhundert physische Gewalt zumindest in unseren Kulturkreisen weitgehend abgelöst. Moderne Strafen, das sind Fernseh- und Handyverbote, Schreien, aus dem Raum gehen, das versprochene Eis oder das Treffen mit Freunden verbieten. Diese Strafen gelten heute als gesellschaftlich mehr oder weniger akzeptierte Verletzungen, die als notwendig erachtet werden, um unsere Kinder zu „er-ziehen“ – so, wie sie unserer Ansicht nach sein oder nicht sein sollten.

Stimmt das? Brauchen wir Strafen?

Was machen Strafen mit unseren Kindern? Und mit uns? Und was sind überhaupt Strafen – was Konsequenzen?

Strafen sind, unbeschönigt formuliert, eine Form der Machtausübung. Unser Kind macht nicht das, was es soll? – Wir versuchen es zunächst im Guten (reden, bitten), aber wenn es partout nicht „hören“ will, schimpfen, drohen und strafen wir. So stellen wir die Kontrolle wieder her über Situationen, die wir anders nicht zu lösen wissen, wir holen uns selbst aus der Ohnmacht und Hilflosigkeit. Und beruhigen unser schlechtes Gewissen damit, dass das Kind schließlich lernen muss, dass sein Verhalten Konsequenzen hat. – Auch wenn wir spüren, dass es dennoch nicht ganz richtig war.

Das wahrscheinlich größte Problem am Wandel vom „Er-ziehen“ hin zu einer gleichwürdigen Beziehung, ist, dass Bestrafungen oberflächlich durchaus „funktionieren“.

Warum ist das so?

Weil Kinder uns über alles lieben. Wir wissen heute aus der Bindungsforschung, dass Babys und Kleinkinder mit ihren Eltern kooperieren wollen. Es liegt in ihrer Natur, sich an uns zu binden und uns gefallen zu wollen (das sicherte immerhin Jahrtausendelang ihr Überleben). Am Mythos „Tyrannenkinder“, die wir unbedingt er-ziehen müssen, damit sie uns nicht auf der Nase herumtanzen, ist laut aktuellen Forschungen demnach rein gar nichts dran (allen Zweifelnden empfehle ich hierzu das Buch von Alfie Kohn „Der Mythos des verwöhnten Kindes“).

Kinder kooperieren unbewusst selbst dann, wenn ihre Integrität durch Strafen, Schreien oder Schimpfen („harsh verbal disciplining“) zuvor verletzt wurde. Ein kleines Kind, dass zur Strafe auf sein Zimmer geschickt wurde, spielt am nächsten Tag trotzdem mit seinen Eltern, es liebt sie genauso unvoreingenommen, wie vorher, es sieht sie auch nicht kritischer – es ist sich ganz, ganz sicher, dass sie „richtig“ und es „falsch“ ist.

Wenn wir ehrlich sind: Darauf fußen die Strafen doch. Ich bestrafe dich und zeige dir: „So will ich dich nicht haben.“ In der Hoffnung, dass du dann anders bist.

Und das passiert dann auch.

Das Kind lernt: „So bin ich nicht okay. Also muss ich irgendwie anders sein“. Wenn es nun am nächsten Tag wieder mit seinen Eltern spielt, sie liebhat und sie anhimmelt, dann hat es ein bisschen mehr an Selbstvertrauen und Selbstliebe verloren, es fühlt sich innerlich einsam, verletzt und „falsch“. Aber: Es wird das nächste Mal eher tun, was von ihm verlangt wird. Es wird ein bisschen mehr so sein, wie seine Eltern es haben wollen, und ein bisschen weniger, wie es selbst. Strafen verletzen Kinder. Wir wissen das, denke ich. Wir wollen es vielleicht nur nicht wahrhaben, weil sie doch so gut funktionieren. Und weil Kinder Konsequenzen lernen müssen: „Wer nicht hören will, muss fühlen“ – oder?

Strafen versus Konsequenzen

Hier ist es ganz wesentlich, Konsequenzen und Strafen auseinanderzuhalten. Kinder lernen Konsequenzen ganz automatisch. Eine Konsequenz ist etwas, dass auf etwas folgt: das umgekippte Wasserglas führt zu einer Wasserlacke, nicht lernen führt zu einer schlechten Note. Das Fernsehverbot aufgrund der schlechten Note ist hingehen keine logische Konsequenz, sondern eine Strafe, mit der ich mein Kind zu etwas bringen will, was mir wichtig ist – in diesem Fall gute Noten.

Ein Papa erzählte mir unlängst, dass sein Sohn in Rage gegen die Gitarre seiner Schwester getreten hatte, und diese dadurch gebrochen war. Es tat dem Sohn hinterher so leid, dass er in Tränen ausbrach, sich tausendmal entschuldigte und sein ganzes Taschengeld sparte, um die Gitarre zu ersetzen. Ob das Konsequenz genug sei? Ja! Die Konsequenz ist ein ganz unangenehmes Gefühl, Traurigkeit, Scham, Reue.

Wenn ich gegen etwas trete, ist es nachher vielleicht kaputt – und damit mache ich jemanden traurig und muss es irgendwie ersetzen.

Wozu hier noch eine Strafe draufsetzen Um ganz sicher zu gehen, dass es nicht wieder passiert? Wir dürfen nicht vergessen: Kinder sind Teamplayer.  Sie wollen (meistens) keine Instrumente zerstören, sie wollen niemandem weh tun. Sie wollen mit uns mittun. Sie würden wollen, wenn sie könnten. Das ist bloß nicht immer der Fall.

Emotion vor Kognition

Die Gehirne unserer Kinder sind keine „Erwachsenengehirne“. Bis ins Schulalter haben sie noch keine ausreichende Impuls- und Handlungskontrolle. Es gilt: Emotion vor Kognition. Ein Kind, das zudem müde ist, einen anstrengenden Tag hatte, gerade sehr wütend ist…, dieses Kind kann nicht kooperieren. Um diese Kinder wieder ins Boot zu holen, gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten. Strafen holen sie nicht ins Boot. Strafen setzen sie in ein eigenes Boot und lassen sie ganz alleine weit, weit raus treiben und sagen: „Komm wieder, wenn du dich beruhigt hast. Bis dahin will ich nichts mit dir zu tun haben.“

Wenn wir für unsere Kinder da sein wollen, setzen wir uns gemeinsam mit ihnen ins Boot und überlegen: Hm, was machen wir jetzt? Was ist gerade passiert und wie kommen wir da wieder raus?

Wir versuchen, die Bedürfnisse unseres Kindes zu sehen, die zu einem bestimmten Verhalten führen, und diese Bedürfnisse anzusprechen. Wenn es z.B. die fehlende Autonomie ist, die zu einem Zähne-putzen-verweigern führt (das Kind will lieber noch spielen und versteht überhaupt nicht, warum es ausgerechnet JETZT Zähne putzen soll), könnten wir fragen: „Mit welcher Zahnbürste möchtest du heute putzen?“ „Soll ich dir die Zähne putzen oder möchtest du selbst?“ – um unserem Kind wieder ein Stück Autonomie zu geben.

Oder wir könnten die Übergänge angenehmer gestalten: „Komm, wir schauen das Buch noch gemeinsam an und dann gehen wir Zähne putzen.“ Oder: „Willst du dir ein Spielzeug zum Zähne putzen mitnehmen?“. – Es gibt eine Vielzahl an Varianten, herausfordernde Situation gleichwürdig und wertschätzend, ohne Bestrafung oder Drohung zu lösen – in Kontakt mit unserem Kind.

Die spannende Frage ist, warum es uns dennoch oft so schwerfällt, auf Strafen zu verzichten und einen anderen Weg zu gehen.

Wieso fällt es uns reifen, erwachsenen Menschen so schwer, vor uns dieses kleine Wesen zu sehen, das einen schweren Tag hatte und jetzt einfach keine Lust auf Zähne putzen hat? Wieso nehmen wir das so persönlich? Wieso verlieren wir den Kontakt?

Eine der Antworten ist: Stress.

Für unser Gehirn bedeutet ein Kind, das nicht kooperieren möchte: Stress. Cortisol wird ausgeschüttet, der präfrontale Kortex (zuständig für Empathie und rationales Denken) wird ausgeschaltet, damit wir schnell und im Affekt reagieren können – Angriff oder Flucht.

Strafen und Schimpfen ist Erziehen im Affekt. Wir müssen dazu nicht nachdenken, es passiert einfach.

Um diesen Mechanismus auszuhebeln hilft nur: Achtsamkeit und radikale Selbstfürsorge. Nehmt euch über den Tag verteilt öfters mal ein paar Sekunden und fühlt in euch hinein: Wie geht es mir eigentlich gerade? Bin ich müde? Was brauche ich? Nehmt eure Bedürfnisse ernst! Eine wertschätzende Beziehung auf Augenhöre kann nur gelingen, wenn ihr Energie für diese Auseinandersetzung – im positiven Sinne – mit eurem Kind habt. Wenn wir im Notbetrieb laufen, ist es meistens verlockender, zu strafen, zu schimpfen, uns schnell „Luft“ zu machen (das sind ja auch oft Muster, die wir wiederum von unseren Eltern mitbekommen haben).

Aber ist es auch fair?

Unser Kind kann nichts dafür, dass wir nicht gelernt haben, auf uns zu schauen, dass wir immer neue „Gründe“ finden, warum wir uns keine Auszeit nehmen dürfen. Es hat ein Anrecht darauf, so lieb gehabt zu werden, wie es ist. Wir sind für uns und unsere Gefühle verantwortlich, nicht unser Kind. Niemand packt Gefühle – Hilflosigkeit, Ärger, Wut – in uns hinein, sie entstehen in uns aufgrund unseres Systems und aufgrund von Erfahrungen, die wir gemacht haben. Für all das kann unser Kind nichts. Und wenn ihr doch geschrien oder bestraft habt, dann bitte entschuldigt euch – und vergebt euch auch selbst. Ihr müsst nicht perfekt sein. Für eure Kinder ist es aber irrsinnig wichtig, zu wissen: „Ich bin nicht schuld“. Nehmt es als Signal, euch wieder mehr um euren „Seelenhaushalt“ zu kümmern.

Und warum das Ganze?

Um unseren Kindern das Gefühl zu geben, dass sie wundervoll sind, so wie sie sind, um ihnen Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein mitzugeben. Um eine wunderschöne Beziehung zu unseren Kindern zu leben, die uns durch schwierige Phasen tragen wird. Um ihnen vorzuleben, dass gute Beziehungen nicht über Macht, sondern über Liebe und Wertschätzung funktionieren. Und vielleicht auch, um ganz viel über uns lernen und uns entwickeln zu dürfen.

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Ein Artikel von

Portraitfoto Barbara Grütze

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