Wie Kinder mutig werden

Mut gilt als heroische Eigenschaft. Wer mutig ist, der ist jemand. Doch was bedeutet Mut eigentlich genau? Und: Können Kinder (und natürlich auch Erwachsene) lernen, mutig zu sein?

Ich lese mit meinem Sohn (3) gerade Geschichten aus den Büchern der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren. Viele ihrer kindlichen Helden sind stark, vital und mutig. Ich begann, darüber nachzudenken, ob die Kinder „des wirklichen Lebens“ eigentlich auch so mutig sein können wie zum Beispiel Pippi Langstrumpf und Ronja Räubertochter. Welche Zutaten braucht es dazu eigentlich? Im Duden findet sich folgender Eintrag unter „Mut“: „Mut ist die Fähigkeit, in einer gefährlichen Situation seine Angst zu überwinden sowie die grundsätzliche Bereitschaft, angesichts zu erwartender Nachteile etwas zu tun, was man für richtig hält.“

Pippi Langstrumpf zeigt nicht nur physischen Mut, indem sie Stiere bekämpft, Prügel-Knaben durch die Luft schleudert und Kinder aus brennenden Häusern rettet. Sie verfügt über Eigenschaften, die über reine körperliche Kraft und Unerschrockenheit hinausgehen. Pippi steht für das ein, was sie denkt. Sie sagt, was sie fühlt. Sie hilft dort, wo sie es für richtig hält. Sie hinterfragt Normen und Gesetze und prüft diese auf ihre „Verträglichkeit“ in Bezug auf ihre eigene Lebensmoral.

Ja, Mut hat viele Gesichter. Vom 5-Meter-Brett ins Schwimmbecken zu springen, kann mutig sein. Es ist aber genauso mutig, sich dem Drängen anderer zu so einem Sprung zu widersetzen und klar zu artikulieren, dass man das nicht machen möchte – selbst wenn man damit Spott und Hohn riskiert. Auch das Zugeben von Fehlern oder Wissenslücken setzt Mut voraus. Genauso wie das Ausdrücken von Emotionen (wie zum Beispiel „ich bin traurig“) mutig ist, da man dadurch seine Verletzlichkeit preisgibt. Pippi Langstrumpf ist in jeder Hinsicht mutig. Vielleicht ist sie deshalb so faszinierend und für viele Kinder ein Vorbild.

Warum Mut und Angst zusammengehören

Meistens wird mit Mut Wagemut, Unerschrockenheit, Angstfreiheit assoziiert. Die moderne Mut-Forschung sieht das allerdings anders: Mut gäbe es nur in Kombination mit Angst – das seien einfach zwei Seiten einer Medaille. „Mut und Angst schließen sich nicht aus. Die meisten mutigen Menschen berichten, dass sie erst ihre Furcht überwinden mussten, um dann eine mutige Tat vollbringen zu können. Angst gehört dazu, wenn man mutig sein will.“ (Nicola Schmidt: Mut – Wie Kinder über sich hinauswachsen. Beltz, 2016) Ich muss dabei unweigerlich an den berühmten Extrem-Alpinisten Reinhold Messner denken, der sich selbst immer wieder als ängstlichen Menschen bezeichnet hat.

Das scheint auf den ersten Blick paradox. Doch ist Angst ein wichtiger Begleiter auf dem Weg zu mutigem Handeln. Hat ein Kind zum Beispiel auf einem Klettergerüst Angst weiterzugehen und nimmt diese Angst bewusst als Warnung wahr, dann hat es in seiner Entwicklung einen großen Schritt getan. Es hat gelernt, dass das Risiko besteht, zu fallen und sich zu verletzen. Im nächsten Schritt wägt es dann ab, ob es das Wagnis unternehmen möchte oder nicht. Angst ist demnach kein lästiger Makel, sondern ein wichtiger und oft lebensnotwendiger Hinweisgeber.

Mut unterstützen – 5 Anregungen

Laut Forschung ist Mut keine genetisch angeborene Eigenschaft, sondern eine erlernbare Fähigkeit. Eltern und Bezugspersonen im Allgemeinen können Kinder bei der Genese von Mut unterstützen. Hier ein paar Gedanken und Anregungen:

#1 Riskantes zulassen

Eltern sollten stets ihre eigenen Ängste prüfen, hinterfragen und in Schach halten. Kinder lieben Grenzerfahrungen. Sie müssen zum Beispiel auf einen Baum hinaufklettern und fallen, um sich und ihre Grenzen kennenzulernen. Aufgabe der Eltern ist es, ihnen diese Möglichkeit ohne angstvolle Warnungen oder Prophezeiungen à la „Du wirst da runterfallen“ zu geben, dabei aber wirkliche Gefahr zu verhindern. Eine gute Strategie: Danebenstehen und auffangen!

#2 Grenzen respektieren

Wenn sich Kinder körperlich erproben, kommt es häufig vor, dass Eltern in die Risikoeinschätzung eingreifen. Gut gemeint sind Ermunterungen wie „Das schaffst Du schon“; leider haben diese oft einen gegenteiligen Effekt.

Wenn sich das Kind einfach nicht über die Hängebrücke drübertraut, dann ist das so.

Dem Kind das Gefühl zu geben, es müsste das doch schaffen, verunsichert, lähmt, erzeugt Scham. Mut machen, das ist gar nicht nötig. Einfach dabei sein und das Kind in seiner Entscheidung (und die kann durchaus auch lauten: Nein, ich geh da nicht weiter, ich traue mich nicht) unterstützen.

#3 Vergleiche vermeiden

Vergleiche mit anderen Kindern vermeiden. Kinder sind so unterschiedlich. Das Gras wächst bekanntlich nicht schneller, wenn man daran zieht. Jedes Kind kann Mut entwickeln, allerdings in seinem ganz persönlichen Tempo und Ausmaß.

#4 Empathie fördern

Die Entwicklung von Mut geht Hand in Hand mit der Entwicklung von Moral. Und dafür ist Empathie nötig: Je besser sich Menschen in die Gefühls- und Erfahrungswelt eines anderen hineinversetzen können, umso eher können sie in sich klären, ob sie in einer bestimmten Situation mutig eingreifen wollen oder nicht. Ein Kind, das weiß, dass Ausgrenzung schmerzen kann, wird – wenn es mutig genug ist – gegen die Ausgrenzung anderer eintreten. Eltern können ihre Kinder immer wieder zur Empathie anleiten. Mit simplen Fragen wie „Wie, denkst du, fühlt sich XY?“ oder „Was würdest du in einer solchen Situation wollen oder tun?“, unterstützen sie die Gabe der Einfühlung.

#5 Fehler zulassen

– Ein Geschenk von Eltern an ihre Kinder ist außerdem die Freiheit, Fehler machen zu dürfen. Leben Kinder in der Gewissheit, dass ihre Eltern sie auch lieben, wenn ihnen ein Fehler unterläuft, können sie auf natürliche Weise mutig werden. Eine gewisse Fehlerfreundlichkeit ist nämlich Voraussetzung für Mut. Schließlich besteht immer die Möglichkeit, dass ein Wagnis daneben geht. Angst, bei einem Unterfangen einen Fehler zu machen, blockiert den Schritt zu mutigem Verhalten.

Mutigen Herzens

Mein Sohn trägt einen mutigen Namen. Richard bedeutet „reich an Mut“. Menschen, die ihn nicht gut kennen, würden ihn wahrscheinlich mit den Etiketten „ängstlich“ und „vorsichtig“ versehen. Bis er 2,5 Jahre alt war, ging er auf dem Spielplatz keinen Meter allein. Er wollte immer, dass ich ihn von Spielgerät zu Spielgerät trage und dann dicht bei ihm bleibe. Wasser ist ihm noch heute ein zutiefst suspektes Element. Und wenn er Neues ausprobiert, verlangt er stets nach meiner Begleitung. Ein unbekümmerter Draufgänger ist er wohl nicht. Er ist aber ein kluger Vorausdenker. Er holt sich die Sicherheit, die er braucht, nimmt sich die Zeit, die er zur Bewältigung einer sich selbst gewählten Aufgabe benötigt. Er kann sich und sein Können in den meisten Situationen wunderbar einschätzen. Und hält felsenfest dagegen, wenn er zu etwas gedrängt wird, das er nicht möchte oder wozu er sich nicht in der Lage sieht. Ein mutiges dreijähriges Kerlchen, wie ich finde.

Im übertragenen Sinn bedeutet der Name Richard auch „reich an Herz“. Das Herz gilt als Sitz unserer Emotionen. Es heißt, in unserem Herzen wohne Gott, hier sei unsere Seele beheimatet. Hier leben jene Qualitäten, die uns als Mensch ausmachen.

Mutig sein, das ist nicht nur, von hohen Bäumen zu springen oder auf dem dunklen Dachboden nach Gespenstern zu jagen. Mut bedeutet für mich, dass ich es wage, ganz ich selbst zu sein, auf mein Gefühl und meine Weisheit zu hören, meine eigene Moral zu kennen und zu meinen Überzeugungen zu stehen.

Auch, wenn ich mir dadurch Kritik und Gegenwind einhandle. Mut heißt für mich auch, das Göttliche in mir zu spüren und mich so anzunehmen und zu schätzen, wie ich bin. Und mit dem kleinen Richard Löwenherz an meiner Seite mache ich mutige Schritte in diese Richtung.


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