Spielzeug, Echtzeug – und die Frage nach den Absichten

Warum man Spielzeug nicht per se schlecht machen darf und auch nicht jedes Echtzeug kindgeeignet ist, erklärt Dr. Herbert Renz-Polster, Wissenschaftler und Kinderarzt. Denn eines müssen Eltern immer bedenken: Kinder brauchen Vertrauenspersonen, die sie im Spiel begleiten. 

Es ist gar nicht so einfach, Spielzeug und Echtzeug in klare Kategorien zu trennen. Mit Blick auf das Kind wird das vielleicht noch schwieriger – denn auch Echtzeug ist für ein Kind zunächst Spielzeug. Spielzeug ist, natürlich, im kindlichen Ernst – wiederum Echtzeug. Werfe nur einer dem Kindergartenkind vor, dass es mit seiner Rakete ja sowieso nicht bis zum Mond komme! (Ältere Kinder werden da dann schon realistischer). Trotzdem gibt es auch für die Kinder Unterschiede: ein Spielzeug ist dann ein „richtiges“ Spiel- (oder eben Echt-)zeug, wenn das Kind damit in seine „Zone der proximalen Entwicklung“ vorstoßen kann – also in diese „Kribbelzone“, in der das Kind mit Begeisterung und Konzentration die Dinge tut, die gerade in seiner Entwicklung anstehen.

Wie die „Kribbelzone“ aktiviert wird

Und um in diesem Sinne wirksam zu sein, muss sich mit Spielzeug schon etwas Wichtiges anstellen lassen! Ein 3-Jähriger, der auf einem Bauernhof aufwächst, hat seiner Mutter kürzlich nach einem Schnupperbesuch im Kindergarten gesagt, er wolle da nicht hin, denn da hätten die Kinder nur so stumpfe Plastiksägen (er selbst hantiert zuhause mit einer echten Bügelsäge, die ihm sein Vater geschenkt hat, damit er auf seinem kleinen Holzbock Äste durchsägen kann). Spielplatzgestalter berichten etwas ähnliches: wenn sie Aussengelände an einer Kita gestalten, so sind die Baumaterialien, die sie dort liegen lassen, für die Kinder viel interessanter als die fertigen Spielgeräte (die gefallen dann vor allem den Eltern).

Kinder imitieren die Realität

Spielzeug bzw. Echtzeug ist für das Kind also zunächst einmal Mittel zum Zweck – Mittel um das Vibrieren seines „Entwicklungsmotors“ zu spüren. Und genau deshalb sollten wir auch nicht bei der künstlichen Kategorisierung in „Spiel-“ und „Echt“-Zeug hängen bleiben. Entscheidend für das Kind ist der Kontext, der Rahmen, in dem es sein „-zeug“ anwendet: Kann es das Zeug so verwenden, dass sich das Spiel „richtig“ anfühlt?

Und das tut es dann, wenn es dem Kind Entwicklungserfahrungen ermöglicht, ganz vornweg Selbstbewährung und Kohärenzerfahrung. Wenn das Kind sich also in genau den Dingen als wirksam erfahren kann, die ihm gerade unter den Nägeln brennen. Und wenn es sich dabei als Teil eines sinnvollen Ganzen erlebt – wenn es also die Welt als durchschaubar, Aufgaben als lösbar und die eigene Anstrengung als bedeutsam erleben kann.

Auch das Spielen mit Echtzeug wird den Kindern nichts nützen, wenn Pädagogen sich vor allem als Kapos der kindlichen Bildungskarriere verstehen.

„Echte“ Spiele fallen nicht vom Himmel. Das echte kindliche Spiel stellt Bedingungen

… Sicherheit:

ohne emotionale Sicherheit kommen Kinder weder mit Spiel- noch mit Echtzeug in ihre „Kribbelzone“. Ihre Sicherheit schöpfen Kinder – je kleiner desto mehr – aus den Beziehungen, die sie tagtäglich erleben. 

Sie wollen mit Menschen zu tun haben (ob zuhause oder im Kindergarten), die verlässlich verfügbar sind und denen sie vertrauen können. Die ihnen Wertschätzung entgegen bringen. Die zu ihnen stehen, wenn sie in Not sind.

… Freiheit:

es braucht aber auch Freiheit, dass Kinder ihre Spiele so ausrichten können, dass sie für sie taugen. Es muss die richtigen Gelegenheiten geben, um gute Spiele in Gang zu bringen, es braucht den richtigen Raum, wilde Flächen, wilde Flecken auch im Tagesablauf, frei von vorgegebenen Zielen. Es braucht auch die richtigen Spielpartner, und das sind gewiss nicht immer die gleichaltrigen Kinder. Kurz, es braucht die Möglichkeit der kindlichen Selbstorganisation.

Ist „das Zeug“ für die Kinder geeignet?

Und damit sind wir beim entscheidenden Punkt. Ob das „Zeug“ für das Kind taugt, hängt immer auch mit denen zusammen, die den Rahmen setzen.

  • Welche Vorgaben kommen ins Spiel?
  • Welche Begrenzungen?
  • Welche „Pädagogik„?

 

Auch mit Echtzeug können langweilige, kribbel-freie Spiele entstehen. Auch mit Echtzeug können Kinder pädagogisch manipuliert werden. Auch mit Echtzeug kann die Kindheit verzweckt werden. Auch mit Echtzeug im Koffer können ErzieherInnen in der Rolle des pädagogischen Animierpersonals landen.

Entscheidend sind die Absichten.

Spielzeug ist nicht aus sich heraus gut oder schlecht, sinnvoll oder nicht sinnvoll, genausowenig das Echtzeug.

Ja, das gilt sogar für das größte Echtzeug überhaupt, die Natur. Man kann auch in der Natur mit Kindern viel pädagogischen Unsinn betreiben und ihnen die Natur als Erfahrungsraum zum Beispiel durch pädagogische Verzweckung madig machen.

Echt-Zeug, das für die kindliche Entwicklung taugen soll, braucht als Begleiter der Kinder nämlich tatsächlich das: Echt-Menschen, die ihre Rolle als authentische, verlässliche und präsente Begleiter von Kindern ausfüllen können.

Dr. Herbert Renz-Polster, Autor des Buches „Kinder verstehen. Born to be wild – wie die Evolution unsere Kinder prägt“. Mehr dazu: www.kinder-verstehen.de

Kinder verstehen. Born to be wild – wie die Evolution unsere Kinder prägt

Dr. Herbert Renz-Polster
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 512 Seiten
9. Aufl. 2016, Durchgehend vierfarbig, mit zahlreichen Fotos.

ISBN: 978-3-466-30824-8

 

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