Meine Kindheit am Land

Wie heißt es schön: Sei frech, sei wild und wunderbar! Und gleich habe ich ein Bild von einer Wiese im Kopf, auf der barfüßige Kinder toben, von großen Apfelbäumen, an deren Ästen Schaukeln hängen und selbstgebastelten Schiffchen, die im Bach hinterm Haus zu Wasser gelassen werden. Diese Bilder habe ich übrigens nicht aus Bullerbü-Büchern, sondern aus meiner Erinnerung.

Ich bin in Oberösterreich, im Mühlviertel aufgewachsen. Mein täglicher Weg zum Schulbus war ganz schön lang und steil. Ein Bergerl, das Stadtkinder womöglich schon als Schulausflug bezeichnen und das meine Kinder nicht mal ohne Schultasche und bei Sonnenschein gerne raufgehen, um die Oma zu besuchen. Wir Landkinder sind das Bergerl mehrmals täglich rauf und runtergelaufen, geradelt und im Winter gerutscht. Zum einen um zur Straße und zum Bus zu kommen, zum anderen, um regelmäßig die Milch mit einer „Millipitsch’n“ (Milchkanne) vom Bauern unten zu holen. Das war eine unserer Kinderaufgaben. Gestöhnt haben wir schon beim Raufschleppen, aber auch gequatscht, gelacht und gespielt.

Aber wenn’s dunkel wird, kommst heim“, war im Sommer ein Standardsatz meiner Mutter.

Und schon hab ich mir mein Fahrrad geschnappt und bin mit den anderen Siedlungskindern abgezischt. Zum See, zum Wasserwald, auf den großen Parkplatz - auf dem damals nur vereinzelt Autos standen, weil noch nicht jede Familie ein, geschweige denn zwei Autos besaß - wir fuhren zur Donau-Au oder auch zu irgendeinem Nachbarskind nach Hause. Tatsächlich kann ich mich nicht an Langeweile erinnern, immer wussten wir ein lustiges Spiel. Es gab kein Kika im TV, keinen Supermario, keine Nintendo Switch und kein Multiplex-Kino. Dafür gab es rund um uns ein ganz anderes, wie ich finde, besseres Angebot an Beschäftigung. Die Natur. Und die galt es bei jedem Wetter und jeder Jahreszeit zu entdecken und zu erobern…

Es gab keine Computerspiele und kein Fernsehen. Dafür aber ein Mehr an Natur, also ein viel besseres Angebot. 

Meine Kinder habe ich in Wien zur Welt gebracht, mitten in der Großstadt. Meine Assoziationen zum Leben mit Kleinkindern in der City sind geprägt von Straßenlärm, Menschenmassen, überfüllten Spielplätzen und U-Bahnfahrten mit Baby im Manduca auf der Brust, Rucksack mit allem Drumundran am Rücken und das zweite Kind im Kinderwagen, an dem irgendwie auch noch ein Laufrad baumelte. Die Stadtmama muss für einen Spielplatzausflug alles mitschleppen. Die Landmama macht einfach die Tür zum Garten auf und sagt: „Geht‘s raus spielen!“

Und meine Kinder? Sie wachsen mit Menschenmassen und Straßenlärm auf. 

Angst? Ich kannte fast jeden und fast jeder kannte mich. Das gab mir als Kind ein Gefühl von Sicherheit. Und wir waren schon sehr jung alleine unterwegs - freilich ohne Handy - weil wir ja wussten, wenn etwas sein sollte, müssen wir einfach beim nächsten Haus klingeln und uns wird geholfen.

Eigenständigkeit ist in der Stadt schwieriger zu erlernen.

Meine Freundin, eine Stadtmama, hat mir letztens ganz stolz erzählt, dass ihr 6jähriger Sohn zum ersten Mal ganz alleine beim Billa war. Der Billa ist nebenbei bemerkt gleich im Erdgeschoß des Wohnhauses! Dort hat er Brot gekauft. Das Geld hat die Mama vorher genau abgezählt mitgegeben. Um ehrlich zu sein, ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. „Toll?“, „Wow?“, „Echt?“ Ich sagte: „Aha“. Was meine Freundin wohl ein bisschen mürrisch stimmte. Sie hatte sich offenbar das „Toll!“ erwartet. Ihre Kinder gehen jetzt außerdem zu den Pfadfindern. Sie lernen Gemeinschaftsgefühl, Wo-anders-Übernachten, Im-Schlafsack-Schlafen, aus Holz etwas basteln usw.

Kind fährt Rad am Land

Unser größtes Baumhaus, als ich noch Landkind war, war bestimmt zwei Kilometer von unserem Haus entfernt ganz einsam auf einer großen Waldlichtung. Dort haben wir viele, viele Nachmittage ohne Aufsicht gespielt und gebaut. Und wer kein eigenes Taschenmesser besaß, hat heimlich aus Mamas Lade ein Küchenmesser stibitzt. Damit haben wir dann die Äste bearbeitet. Soviel ich weiß, hat sich keiner meiner Freunde beim Schnitzen je wehgetan. Wir waren handwerklich alle recht geschickt. Nicht nur wir haben uns viel zugetraut, auch die Erwachsenen hatten oft beinahe blindes Vertrauen in unsere Fähigkeiten.

Eltern am Land können ihren Kindern früher Vertrauen zur Selbstständigkeit schenken, da weniger Gefahren sind als in einer Großstadt.

Ich weiß noch gut, immer wenn ich meine Volksschulfreundin Doris besuchen kam, hat ihr Papa mir vorher etwas angeschafft. Einmal hat er mir sogar eine richtig große Sense in die Hand gedrückt und gesagt: „Z’erst hilfst mir, die Wies’n mah’n, dann kannst zur Doris.“

Wir haben Staudämme im Wasserwald gebaut und dabei Sauerklee genascht. Wir sind vor Hornissen geflüchtet und nie ohne blutige Knie heimgekommen. Ich habe Eislaufen am See gelernt – mit allen Höckern und Mugeln im Eis, ohne Geländer zum Anhalten. Schön war’s und aufregend.

Alles hat zwei Seiten. Auch das Landleben. Denn spätestens ab der Pubertät macht sich Langeweile breit. 

Doch als ich älter wurde, hat das idyllische Landleben immer öfter genervt. Ich wollte mich modischer kleiden, das eckte an. Der Weg ins Eisgeschäft, zum Kino oder in die Höhere Schule war ganz schön weit. Und ohne Führerschein war man „aufg’schmissen“. Und das Getratsche! Das fällt einem als Kind natürlich noch nicht auf. Dieses Lästern! Alles sprach sich rum, nirgendwo war man „für sich“. Manche Siedlungs-Mütter oder -Väter taten mir plötzlich richtig leid, weil jeder ihrer Schritte beobachtet wurde. Werden sie sich scheiden lassen? Hat er schon eine Neue? Jetzt hat sie schon wieder Besuch …usw.

 

Während es als Kind noch herrlich ist auf dem Land zu leben, findet man das als Jugendlicher oftmals gar nicht mehr so toll. Und so bin ich mit 18 weg vom Land und rein in die Großstadt.

Mitten unter vielen Menschen dennoch alleine: Dies ist eine Art der Freiheit, die ich lange nicht missen mochte. Doch wir wagen diesen Schritt, um meinen Kindern die Freiheit zu ermöglichen, die sie jetzt brauchen. 

Hier kann ich noch immer auf eine andere Art frei atmen als am Land. Hier bin ich allein, auch wenn ich nicht allein bin, hier bin ich „für mich“ und doch mitten unter vielen Leuten. Ich sehe so viele bunte, schrille, schräge, elegante, aufgetakelte, coole, lässige, sportliche und ausgeflippte Menschen. Es hat den Anschein: Jeder darf sein, wie er mag und auffallen, wenn er mag. Wunderbar! Ich liebe die Jugendstilhäuser, die Hinterhöfe, die Gastgärten, das Getummel, die Geschäfte, das Bummeln, die Abwechslung. Wenn’s schön ist, geht man in den Park, legt sich mit einem Buch auf die Wiese oder isst im Schanigarten am Naschmarkt Exotisches aus fremden Küchen. Wenn’s regnet, geht man ins Museum und abends in Theater oder auf eine Party. Und der Weg zur Arbeit ist maximal drei U-Bahnstationen entfernt. Noch heute wäre für mich persönlich diese Umgebung mein bevorzugtes Zuhause. Das gebe ich zu. Aber ich weiß auch, wie unbeschwert, angstbefreit, kreativitätsfördernd und selbstbewußtseinsstärkend die Kindheit am Land ist. Und diese Unbeschwertheit möchte ich auch meinen Kindern schenken.

Zurück zum Ursprung also?

Genau. Im Grunde hat vieles zusammengespielt. Es waren Momente wie diese, als eine ältere Dame mich am Spielplatz im 12. Bezirk zurechtwies, ich solle mein Kind doch sofort vom Baum runterholen. Schließlich sei ein Baum nicht zum Klettern da!! Es war aber auch ein kaputtes Dach. Und wir wohnten in der Dachgeschoßwohnung. Und überhaupt hatte unsere Wohnung für 4 Personen um ein Zimmer zu wenig. Also standen die Weichen auf Umzug.

Ich bin ein glücklicher Mensch, weil ich beides kennengelernt habe: Land und Stadt. Beides hat seine Vor- und Nachteile. Für sich und seine Lieben muss man selbst herausfinden, was passt. Vielleicht kann ich bei der Entscheidung helfen:

Diese Dinge haben Stadtkinder den Landkindern voraus

  1. Sie kennen Menschen mit schriller Kleidung und bunten Haaren nicht bloß aus dem Fernsehen.
  2. Andere Religionen, Kulturen, Gerichte und Hautfarben lernen sie bereits im Kindergarten kennen.
  3. Für sie ist das Schloss Schönbrunn nicht nur ein Postkartenmotiv.
  4. Sie werden Profis im Sandkasten-Spielzeug-Verteidigen, weil sie auf dem Spielplatz ständig von anderen Kindern umgeben sind und sich durchsetzen müssen.
  5. Sie kennen von klein auf die Regeln im Straßenverkehr und brauchen bei einer vierspurigen Straße keine Ermahnung an der Ampel.
  6. Sie sind vorsichtig und fragen erst die Mama, wenn ein Fremder am Spielplatz ihnen ein Zuckerl anbietet und greifen nicht automatisch gleich zu.
  7. Sie bekommen schnell mit, dass es in unserer Gesellschaft auch Menschen gibt, denen es nicht so gut geht und wollen von sich aus dem Straßenmusiker oder der Augustin-Verkäuferin ihr Taschengeld geben.
  8. Sie kommen mit Kunst und Kultur viel eher in Kontakt, es gibt heutzutage sowohl in Museen als auch Theatern eine Vielzahl an Freizeitangeboten für Stadtkinder.
  9. Sie können schlafen, egal wie laut es draußen ist. Schließlich ist immer irgendwo eine Baustelle, ein Einsatzfahrzeug oder ein lärmender Nachbar zu hören.
  10. Egal, wo ihre Talente liegen, in der Großstadt findet sich die richtige Schule.

 

Diese Dinge haben Landkinder den Stadtkindern voraus

  1. Sie haben bei Gewitter schon Bäume umfallen sehen, die dann zu Weihnachtsbäumen wurden.
  2. Sie wissen, dass man Blindschleichen nicht am Schwanz anfassen soll, weil der dann abfällt.
  3. Sie kreischen nicht bei einer Spinne und wissen, dass ein Kaninchen, wenn es ein paar Tage nicht gefüttert wird, vermutlich stirbt.
  4. Sie erleben die Jahreszeiten und die Entwicklung von Tieren und Pflanzen in jeder Lebensphase.
  5. Beim Computerspielen kaufen sie mehrmals virtuelles Heu um virtuelle 500 Euro, damit die Tiere ja nicht leiden müssen.
  6. Sie lernen, was es heißt, sich einem Verein zugehörig zu fühlen.
  7. Dass Fell stinkt, wenn es nass ist, wissen sie nicht nur von ihrer schicken Multifunktions-Winterjacke.
  8. Sie lernen Schwammerlplätze kennen, essbare Beeren pflücken und wissen, wie gut die eigenen Tomaten aus dem Garten schmecken.
  9. Auf ihren Spielplätzen findet man weniger Müll, und Bäume sind hier zum Kraxeln da!
  10. Sie sind sich im Klaren, dass sie sich gut mit ihren Eltern stellen müssen, da sie aus Mangel an öffentlichen Verkehrsmitteln bis zum 18. Geburtstag auf deren Gunst und Fahrtüchtigkeit angewiesen sein werden.

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