Laissez-Faire geht gar nicht

Immer wieder geht es in Sachen Kindererziehung um den konkreten Erziehungsstil. Deren gibt es viele verschiedene, auf der einen Seite eher streng und autoritär, andererseits eher locker und antiautoritär. Beides sind natürlich Extreme und meiner Meinung nach nicht ideal.

Es ist sehr wohl wichtig, ein Kind ernst zu nehmen und ihm Raum zur Entwicklung zu geben, aber auch, ihm notwendige Grenzen zu setzen. Grenzen sind ja nicht nur einschränkend, sondern sie geben auch Sicherheit. Ohne Grenzen fühlt sich ein Kind haltlos und wird letztlich in seiner Entwicklung eingeschränkt. Vielfach wurde und wird gegen einen zu autoritären Erziehungsstil gewettert, zu Recht. Auch ich wurde sehr autoritär erzogen und habe das nicht nur positiv erlebt. Es ist nicht gut, ein Kind zu kontrollieren und zu „beschneiden“ und ein Zuviel davon ruft Rebellion hervor.

Ohne Grenzen fühlt sich ein Kind haltlos und wird letztlich in seiner Entwicklung eingeschränkt.

Aber interessanterweise reagieren Kinder, die keine Grenzen bekommen, ebenso mit Wut und Aggression. Laissez-Faire erzeugt nicht etwa Kinder, die in Freiheit zu sich selbst finden, weil sie ja tun können, was sie wollen, sondern solche, die verzweifelt nach gesunden Grenzen suchen. Ich habe das selbst mehrmals erlebt und war wirklich verblüfft, was Kinder alles tun, um sich selbst zu spüren und von Erwachsenen wahrgenommen zu werden. 

Ein Beispiel dafür hab ich erst kürzlich erlebt, auf einem  Ausflug, den ich allein unternommen habe. Ich war an einem wunderschönen See, in herrlichster Natur, umgeben von Bergen und wollte die Ruhe genießen. Ich suchte mir ein ungestörtes Plätzchen am Seeufer und schaute den Enten zu. Im Rucksack hatte ich eine leckere Jause und war gerade im Begriff, sie auszupacken, als ich am gegenüberliegenden Seeufer Unruhe wahrnahm. Eine kleine Gruppe war zu Fuß unterwegs.

Die Erwachsenen gingen flott voran, gefolgt von einem kleinen Kind. Wie alt konnte ich auf die Entfernung nicht erkennen, ich nehme an 4-5 Jahre. Das Kind war aus irgendeinem Grund sauer und weinte. Wahrscheinlich wollte es nicht mehr weitergehen. Es war allerdings kein typisches Heulen, sondern ein wütendes, aufbrausendes Kreischen, das kurz leiser wurde und dann wieder mit voller Kraft weiterging, ähnlich einer Sirene. Die Erwachsenen schienen nicht zu reagieren, sondern gingen immer weiter, gefolgt von dem plärrenden Kind.

Ich war zuerst etwas amüsiert und begann zu essen. Doch als die Sache weiter andauerte, das gesamte gegenüberliegende Seeufer lang, wurde ich selbst langsam unrund. Wieso konnten diese Eltern nicht anhalten, um mit dem Kind zu reden und es zu beruhigen? Mir tat das Kind wirklich leid. Doch die Sache dauerte ununterbrochen weiter, mehr als zehn Minuten lang. Langsam begann ich mir selbst Leid zu tun. Ich dachte: „Wie komme ich dazu, mir dieses ganze Theater so lange anhören zu müssen, wo ich auch mal eine Pause verdient habe?“

Mal kurz einen Wutausbruch eines Kindes im Supermarkt mit anzusehen ist eine Sache. Aber geschlagene zwölf Minuten das wütende Protestgeheul eines Kindes ertragen zu müssen ohne Eingreifen der Erwachsenen, fand ich schon eine Zumutung. Ich war wirklich kurz davor, laut über den See zu rufen, dass nun endlich Schluss sei mit dem Geschrei. Es hätte zwar sicher nichts gebracht, aber so fühlte ich mich. Der Laissez-Faire-Stil dieser Eltern führte dazu, dass andere Menschen, in diesem Fall auch ich, in ihrer Freiheit und ihrem Wohlbefinden eingeschränkt wurden und ich fand das absolut nicht ok.

Und ich bin wirklich nicht überempfindlich und habe als Mama von vier Kindern durchaus Verständnis dafür, dass man als Elternteil auch mal an die Grenzen kommt oder nicht weiterweiß.

Laissez-Faire ist eigentlich ein eleganter Begriff für emotionale Vernachlässigung. Das „Lassen“ hat ja was Gutes. Das Kind darf Dinge probieren, es darf seine eigenen Grenzen austesten. Aber das „Sich-selbst-Überlassen“ finde ich nicht gut. Dieses verzweifelt brüllende Kind hätte vielleicht einfach eine Umarmung gebraucht. Empathie. Jemanden, der es an der Hand nimmt, vielleicht ein kleines Spiel daraus macht, den restlichen Weg gemeinsam zurückzulegen.

Das „Lassen“ hat ja was Gutes. Das Kind darf Dinge probieren, es darf seine eigenen Grenzen austesten. Aber das „Sich-selbst-Überlassen“ finde ich nicht gut.

Man muss ja nicht unbedingt genau das tun, was das Kind will. Auch ich war schon öfters mit Kindern unterwegs, die nicht weitergehen wollten und bettelten, ich solle sie tragen. Ich bin normalerweise nicht bereit, ein gesundes Kind kilometerlang Huckepack zu nehmen, denn ein bisschen Wandern tut allen gut. Und ich trage ja eh schon den Rucksack… Klar nervt es, wenn die Kinder maulen, vor allem wenn man schnell das Ziel erreichen möchte. Aber gar nicht zu reagieren und das Kind einfach seinem Schicksal zu überlassen, ist auch keine Lösung. Laissez-Faire ist eine Tortur für alle Beteiligten, und das geht gar nicht.

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