„Erziehung ist (k)ein Kinderspiel“ - Kinder und ihre Erpressungstaktiken

Kann man bei unschuldigen kleinen Kindern überhaupt von „Erpressungstaktiken“ sprechen? Handeln sie in böser Absicht? Und wie sollen wir darauf reagieren?

Eines möchte ich klarstellen: kindliche Manipulationsversuche sind Mittel zum Zweck und Zeichen von Intelligenz und sozialer Kompetenz. Es kann sich dabei aber nicht um moralische Schuld handeln. Dazu sind kleine Kinder zu unreif, zu unschuldig. Dass dies der Fall ist, spüren wir, wenn gewisse unerwünschte Verhaltensweisen uns insgeheim ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Um uns dies nicht anmerken zu lassen, wenden wir uns meist ab und bemühen uns, ernst zu erscheinen, damit wir erzieherisch adäquat darauf reagieren können. Kleine Kinder können ja so süß sein, wenn sie auf kindliche Weise versuchen, uns auszutricksen. Doch kann man hinter ihren kleinen Erpressungstaktiken durchaus Strategie und Absicht erkennen.

Bedürfnisaufschub und Frustrationstoleranz muss erst erlernt werden

Man muss wissen, dass kleine Kinder von Lust- und Unlustverhalten gesteuert werden. Babys sehen ruhig und glücklich aus, wenn sie zufrieden sind und schreien, bis ihr Bedürfnis „gestillt“ ist. Null Bedürfnisaufschub, null Frustrationstoleranz. Das müssen sie in kleinen Schritten erst lernen, mit viel Liebe, Hingabe und verständnisvoller Unterstützung ihrer erwachsenen Bezugspersonen.

Vater schaukelt Baby im Arm

Kinder haben einen angeborenen Trieb, sich durchzusetzen. Das ist überlebensnotwendig, nicht böse.

Die zahlreichen täglichen Bedürfniskollisionen bieten sich als notwendige Lernprozesse an, welche mit Verständnis, Konsequenz und Humor am besten zu bewältigen sind.

Die zahlreichen täglichen Bedürfniskollisionen bieten sich als notwendige Lernprozesse an, welche mit Verständnis, Konsequenz und Humor am besten zu bewältigen sind. Hierbei haben die Erwachsenen die Leitung und Verantwortung. Eine große Herausforderung, aber auch Quelle tiefer Freuden.

Typische Situationen der Einforderung von Bedürfnissen

  • Emotional aufgeladenes Toben, Schreien, vielleicht sogar Drauflosschlagen, um zu bekommen, was es will. Beispiel: Kind tobt im Supermarkt.
  • Verbale Manipulationsversuche: „Du böse Mama“ oder „Dann hab´ ich dich nicht mehr lieb!“ Kind will ein schlechtes Gewissen einjagen.
  • „Löchern“, Insistieren: Wenn Kinder keine Ruhe geben, bis man endlich nachgibt.
  • Leere Versprechungen: „Ich verspreche dir…!“.  Hat das Kind bekommen, was es will, denkt es nicht daran, sein Versprechen einzulösen. Das kann es noch gar nicht.

 

Zeichen von sicherer Bindung

Zum Trost möchte ich eines vorweg schicken: Wenn Ihr Kind sich auf diese Weise ungehörig verhält, dann beweist es damit, dass es Vertrauen zu Ihnen hat, dass es weiß, dass Ihre Liebe zu ihm darunter nicht leiden wird. Es ist paradoxerweise eher ein Zeichen für eine sichere Bindung.

Wäre es ängstlich verstört, würde es nicht wagen, sich so zu benehmen.

Wäre es ängstlich verstört, würde es nicht wagen, sich so zu benehmen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir alles hinnehmen und gewähren lassen, nur um des lieben Friedens willen.  

Kinder brauchen verlässliche Grenzen

Um sich sicher gehalten zu fühlen, brauchen Kinder ein verlässliches Nein, verlässliche Konsequenzen, verabreicht mit Liebe und Verständnis. Nur so fühlen sich Kinder ernst genommen. Unangemessenes Nachgeben ist meist Ausdruck von Schwäche und nicht von Flexibilität und Kompromissbereitschaft. Schwache Eltern machen Kinder unsicher, deshalb legen sie dann meist noch „ein Schäuferl nach“.

Kleines Mädchen schaut schälmisch über Tischkante

Kinder ernst nehmen, aber nicht beschuldigen

Keinesfalls darf man Kinder beschuldigen und verurteilen. Die moralische Erziehung muss behutsam und altersadäquat erfolgen.

Fallbeispiel

Ewald, 5, will nicht akzeptieren, dass ihm sein Freund Rudi nicht das rote Spielzeugauto borgen will: „Dann bin ich nicht mehr dein Freund!" sagt er, um ihn zu erpressen und bittet seine Mutter, nochmals auf Rudi einzuwirken. Sie lässt sich dazu überreden, doch Rudi bleibt bei seinem Nein. Daraufhin Ewald zu seiner Mutter: „Dann musst du mir auch so eines kaufen!" Mutter: „Schreib es auf deine Wunschliste!" Ewald insistiert: „Nein, so eines will ich heute haben, sonst gehe ich nicht nach Hause!" Mit dem Baby am Arm will die Mutter keinen weiteren „Zirkus" riskieren und gibt nach: "Na gut, wir schauen, ob sie im Geschäft noch so eines haben!" Jetzt erst lässt sich Ewald anziehen.

Analyse

War das pädagogisch richtig gehandelt? Gleich zu Beginn hätte sie Ewald klar machen müssen, dass man so nicht mit seinen Freunden umgeht, dass deren Nein zu akzeptieren sei, weil jeder das Recht hat, sich abzugrenzen.  Dann setzt sie sich für Ewald ein, sie akzeptiert das Nein des Freundes und bietet ihrem Sohn einen anderen Lösungsvorschlag an („Schreib es auf deine Wunschliste“). Doch das genügt ihm nicht. Jetzt versucht er es mit einer Erpressung („Sonst gehe ich nicht nach Hause“) und setzt sich durch. Ewald lernt: „Wenn ich es lang genug probiere, bekomme ich, was ich will!“

Vaterredet mit Tochter

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Erpressungsversuche nicht dulden

Mit seiner Erpressungstaktik hat sich Ewald durchgesetzt, doch tut ihm die Mutter damit keinen Gefallen. Eines der wichtigsten Erziehungsziele ist es, Kindern Frustrationstoleranz beizubringen: dass nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen, dass Erpressungsversuche nichts fruchten und dass sich mit der „Dann bist du nicht mehr mein Freund"-Strategie keine Freundschaften pflegen lassen.

Eines der wichtigsten Erziehungsziele ist es, Kindern Frustrationstoleranz beizubringen.

Darum hätte sie sich besser erst gar nicht in Ewalds Karren einspannen lassen sollen. Solche Situationen ergeben sich einfach und man darf gelegentlich Ausnahmen machen. Doch sollte die Ausnahme nicht zur Regel werden.

Wenn Kinder es gewohnt sind, ihr kleines Ego durchzusetzen, stellen sie immer maßlosere Forderungen. Wenn die Mutter nicht mehr Standfestigkeit und Konsequenz zeigt, kann Ewald regelrechte Verhaltensauffälligkeiten entwickeln, die ihn in Kindergarten und Schule zum Außenseiter werden lassen.

Standhaftigkeit und Konsequenz

Besser wäre es gewesen, die Mutter hätte Ewald wissen lassen: "Deine Freundschaft hat keinen Wert, wenn du damit Druck machst. Du musst Rudis Nein akzeptieren, dann wird er dir nächstes Mal viel lieber etwas borgen.“  Und noch etwas: „Es tut mir leid, wenn du enttäuscht bist, aber wann wir nach Hause gehen, das bestimme ich! Bitte zieh dich jetzt an!" Sie kann durchaus Verständnis zeigen, aber sie muss ihren Entschluss konsequent durchziehen, ohne weitere Debatten, ohne weitere Konzessionen. Stattdessen könnte sie ein Liedchen anstimmen oder erwähnen, worauf sich Ewald zu Hause freuen kann.

Es gibt Situationen, da müssen Eltern eine gewisse Härte zeigen, auch wenn es manchmal schwerfällt.

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