Präferenzen bei den Verwandten: Ein Gewissenskonflikt?

Für mich gilt bei Kindern: Alle ihre Verwandten sind grundsätzlich gleichwertig, selbst hat man sich neutral zu geben. Was aber, wenn das nicht gelingt?

Das Ausgangsproblem ist rasch skizziert: Als erwachsener Mensch mag man nicht alle Menschen. Und: Verwandte kann man sich – im Gegensatz zu Freunden – bekanntlich nicht aussuchen. Dennoch gilt so etwas, zumindest vor Kindern, wie der „Neutralitätsgrundsatz“: Vor- und Abneigungen sollten nicht offenkundig geäußert werden, egal ob implizit oder explizit. Es hat nämlich jeder eine faire Chance.

Und was könnte unfairer sein, als ein Kind zu beeinflussen – egal ob willentlich oder unwillentlich.

Und damit dem Gegenüber die Chance zu verbauen, von diesem eben unvoreingenommen betrachtet zu werden?

Ich finde es ein hohes Gut, wenn nicht das höchste, das man haben sollte. Ein Grundwert. Eine Haltung. Etwas, das man Tag für Tag vorleben sollte. Denn wir wissen, dass aus Meinungen und Haltungen, die die Eltern vertreten, nur allzu oft Ideologie und felsenfesten Meinungen werden. Das gilt meiner Meinung nach sowohl im politischen als auch im gesellschaftlichen und im höchstpersönlichen Bereich. Womit wir wieder bei den Verwandten wären.

Nur, das ist alles gewissermaßen graue Theorie. In der Praxis ist das schon viel schwerer. Es ist wirklich nicht allzu einfach, die standesbewusste, golfspielende Oberschicht Tante gleichermaßen „gut“ zu finden und gleichermaßen gute Eigenschaften an dieser zu finden wie an der netten, zuvorkommenden Tante, die mit allen Menschen gleich umgeht und keinerlei Standesdünkel aufkommen lässt.

Nur: Ist es nicht schon ein Problem, wenn man als Elternteil überhaupt „struggelt“? Haben Kinder nicht ganz feine Antennen, spüren sie nicht, wenn man selbst etwas spürt und wenn man sich bemüht, es zu überspielen?

So gesehen wäre es fast schon sinnlos, sich überhaupt zu bemühen, etwas zu überspielen.

Wäre es diesem Gedankengang folgende nicht klüger, ehrlich und aufrichtig mit den eigenen Vorlieben und Abneigungen umzugehen? Schließlich ist es ja wohl so, dass man seinem Kind vor allem auch eines beibringen sollte: Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Authentizität. Die Fähigkeit zu seinen Gefühlen, Wahrnehmungen und Meinungen zu stehen.

Kurzum: Es ist alles in allem ein riesengroßer Gewissenskonflikt. Wie geht man richtig damit um? Ist Ehrlichkeit in Hinblick auf die eigenen Gefühle, die liebe Verwandtschaft betreffend, die richtige Antwort? Oder ist die gewisse Dosis "Gute Miene zum bösen Spiel" die richtige Antwort?

Vielleicht ist es aber auch grundsätzlich ganz anders: Weder Aufrichtung noch „Spiel“ ist die richtige Antwort. Denn: Das Problem liegt bei einem selbst, nicht bei der Kommunikation des Problems oder eben der Verheimlichung ebenjenes. Muss man an sich selbst arbeiten, muss man nicht selbst mit den verschiedenen Verfasstheiten der lieben Verwandtschaft ins Reine kommen? Heißt also: Man muss zuerst seine eigenen allzu raschen Urteile und vor allem seine allzu gefestigten Vorurteile „bearbeiten“ und somit Schritt für Schritt hinter sich lassen.

Nur dann kann man – so bin ich bei näherer Überlegung eigentlich überzeugt – den Kindern ein Vorbild sein, den Kindern authentisch kommunizieren, dass man mit allen Menschen gleich umgehen sollte bzw. jedem Menschen eine faire Chance geben sollte.

Damit einher geht natürlich auch die Tatsache, dass man gerechtfertigt abwiegt: Wenn es Gründe gibt, jemanden „anders“ zu behandeln oder gar den Kontakt mit einer Person abzubrechen, dann sollte das auf einer guten Basis an fairen Gründen und Überlegungen passieren.

Keineswegs sollte man seinen Kindern also beibringen, unkritisch zu sein.

Es geht um begründete Meinung, um fundierte Ansichten, um kritisches Bewusstsein. Aber auch um: Haltung, Aufrichtigkeit und Vorurteilslosigkeit. Nur wenn man  von Vorhinein vorurteilsfrei an eine Sache und an einen Menschen herangeht, kann man sich eine wirkliche Meinung bilden, kann man sich dem Menschen tatsächlich annähern.

Ansonsten hat man zu viele Vorurteile, übersieht Dinge, nimmt den Menschen nicht ganzheitlich wahr.

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