Grenzüberschreitungen von Eltern: Weder Püppchen noch Teddybär

Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist wie ein zartes Geflecht und erfordert viel Feingefühl. Unsere Zuneigung und unser Stolz dürfen uns nicht zu Grenzüberschreitungen verführen, denn Missbrauch kann sich auch auf ganz subtile Weise manifestieren.

Bedürfnisse nach Abgrenzung ernst nehmen

Der späte Vater liebt seine einzige Tochter Mira, 10, abgöttisch. Sie ist sein Trost bei einem frustrierenden Ausklang seines Berufslebens oder Spannungen in der Ehe. Mira ist zart und hübsch wie die Mama und talentiert wie beide Eltern. Sie ist sein Stolz und das zeigt er auch gerne in der Öffentlichkeit, manchmal durch übertriebene Zärtlichkeiten. Dabei achtet er nicht auf ihren Widerstand, wenn er ihr scheinbar vertraut über den Kopf tätschelt. Auf ihr „Papa, lass das!“ meint er verharmlosend „Du bist mein Zuckerpüppchen!“ Wird sie unwirsch, so wirft er ihr vor „Sei nicht so zickig!“

Ironie am falschen Platz

Auch zu Hause gibt es Szenen, wo sie sich seinen gekünstelten Annäherungsversuchen, die gar keine sexuelle Komponente beinhalten müssen, verweigert. Statt ihr „Das will ich nicht!“ ernst zu nehmen, neigt er zur Ironie „Das war doch nur ein Spaß!“ worauf sie direkt mit „Du blöder Papa!“ kontert und er mit „Sei nicht so frech!“. Zu Freunden meint er erklärend: „Sie ist schon in der Vorpubertät!“

Eigenes Fehlverhalten nicht den Kindern in die Schuhe schieben

Ist es nicht schade, dass dieser Vater die Verantwortung für sein aus Liebe und Verlegenheit entstandenes Fehlverhalten seiner Tochter in die Schuhe schiebt, so als wäre sie die Böse? Auch Spaß an falscher Stelle ist oft nur die Verkleidung einer Grenzüberschreitung, die dokumentiert, dass er sie nicht ernst nimmt.

Um unseren eigenen Schattenseien auf die Spur zu kommen, müssen wir uns selbst manchmal kritisch unter die Lupe nehmen sowie dezenten Hinweisen von Außenstehenden nachgehen und ganz offen nachfragen: „Kannst du mir eine Situation schildern, wo du so etwas wahrgenommen hast“? Wimmeln Sie solche Hinweise nicht mit oberflächlichen Rechtfertigungen ab, sondern prüfen Sie ehrlich, ob da etwas dran sein könnte.

Raum geben, damit Zuneigung und Vertrauen auf natürliche Weise wachsen können

Der Vater erzeugt in Mira ambivalente Gefühle. Wenn Eltern zu ihren Kindern eine liebevolle Beziehung aufbauen und pflegen wollen, so genügt es, achtsam und respektvoll da zu sein, dann kommen sie von selbst und suchen Nähe und Zärtlichkeit.

Aber Kinder sind nicht die Püppchen und Teddybären für unseren Liebesbedarf oder unser Geltungsbedürfnis.

Wenn Eltern die Grenzen ihrer Kinder und ein gelegentliches „Stopp“ akzeptieren, dann gewinnen sie das Vertrauen zurück. Durch Wohlwollen, Offenheit und Echtheit schaffen wir die Vertrauensbasis, die nötig ist, um echte Intimität und Zärtlichkeit entstehen zu lassen. Akzeptieren wir auch, dass Kinder zu verschiedenen Zeiten ein unterschiedliches Bedürfnis nach Nähe haben, und dass sie diese oft unterschiedlich zu den zwei Elternteilen ausdrücken.

Wenn wir uns nach einer Umarmung sehnen, so sollten wir das offen sagen und uns nicht aufdrängen. Es ist wie bei Tieren. Wenn man sie fängt und drückt, fliehen sie. Wer da ist und warten kann, auf den kommen sie zu, holen sich Zuwendung, lassen sich streicheln und gehen, wenn sie genug davon haben - um wieder zu kommen.

Die Grenzen des Kindes achten

Aufgedrängte Zärtlichkeiten sind der erste Schritt zum Missbrauch, auch wenn er weder beabsichtigt ist noch tatsächlich stattfindet.

Kinder, denen nicht gestattet wird, sich abzugrenzen, werden auch leichter Missbrauchsopfer durch Fremde. Die Grenze eines Kindes zu achten, bedeutet tiefen Respekt. Darin zeigt sich die wahre Liebe.

Ähnliche Artikel

Ein Artikel von

Portraitfoto Maria Neuberger-Schmidt

Weitere Artikel des Autors lesen