Feedback einer Großmutter an ihren Schwiegersohn

Wie kann man schlechtes Benehmen stressfrei abstellen?
Eine Großmutter gibt ihrem Schwiegersohn Feedback über eine Interaktion zwischen dem Vater und ihrem Enkelsohn, fünfeinhalb, nachdem dieser um 17:30 nach Hause gekommen war und der Vater gerade zu kochen begonnen hatte.

Hier die Kopie ihres Briefes, der Diskretion wegen mit veränderten Namen:

Lieber Paul,

Ich habe dir immer wieder gesagt, wie sehr ich dich als Vater schätze, und das tue ich auch weiterhin. Aber manchmal kommt es zwischen dir und Lukas zu Stress, der meiner Meinung nach vermieden werden könnte. Wie zum Beispiel gestern Abend.

Zunächst möchte ich dir die Einzelheiten meiner Beobachtungen und Gedanken mitteilen.

Nachdem Lukas mit dem Händewaschen fertig war und du mit dem Kochen begonnen hattest, kam er, um dich um einen Snack zu bitten. Da du weißt, dass er ziemlich hungrig nach Hause kommt, hast du zugestimmt und ich schlug ihm vor, den Snack zu essen, den ich für ihn mitgebracht hatte, ein paar Stücke Ananas und ein paar Blaubeeren. Er fing sofort an, mit den Fingern zu essen. Ich brachte seinen kleinen Löffel, den er ablehnte, vielleicht auf eine nicht sehr höfliche Weise. Das hat mich nicht weiters gestört, aber du hast ihm zu Recht vorgeworfen, dass er unhöflich zu Oma war. Du hast ihn ohne Löffel essen lassen (ich hätte das Gleiche getan), aber du hast ihn auf sehr belehrende Weise zurechtgewiesen, was ihn zum Ausflippen brachte, weshalb du ihn in sein Zimmer schicktest, damit er sich beruhigen kann. Nach kurzer Zeit kam er wieder, um nach mehr Essen zu fragen, und zwar in einem recht weinerlichen Ton. Das gefiel dir nicht, also hast du ihm eine weitere Lektion erteilt, warum jemand, der sich nicht richtig benehmen und nicht richtig fragen kann, bekommen sollte, was er will. Lukas flippte daraufhin nochmals aus, sehr frustriert und verzweifelt. Also wurde er, heulend, ein weiteres Mal auf sein Zimmer geschickt. Dann kam gerade seine Mama nach Hause. Da sie nicht wusste, was geschehen war, dich aber nicht kompromittieren wollte, fragte sie dich, ob sie zu ihm gehen und Hallo sagen könne, was du ablehntest. Ich weiß und du weißt, dass sie sich nicht gegen deine Entscheidungen gestellt hätte, aber sie hätte vielleicht versucht, Lukas etwas Trost zu spenden, damit er sich beruhigt, wie es sich jede Mutter wünschen würde.

Ich habe nicht interveniert, weil ich mich nicht einmischen wollte und es außerdem nicht geholfen hätte. Also blieb ich fern und sprach mit meiner Tochter ein paar Worte über eure Herausforderungen für die kommenden Tage und wie ich euch unterstützen könnte.

Als das Abendessen fertig war, wurden alle eingeladen, sich zu Tisch zu setzen, und ich machte mich bereit, nach Hause zu gehen. Lukas war immer noch emotional sehr aufgewühlt und sagte, er würde nichts essen. Michaela versuchte ihn sanft zu überreden, etwas Reis usw. zu nehmen, da sie wusste, dass er hungrig sein musste. Ich denke, sie hat es geschafft, und ich weiß nicht, wie die Geschichte endete, denn ich sagte einfach gute Nacht und ging.

Ich bin nicht dagegen, Kindern Manieren beizubringen,

aber ich denke, dies könnte man auch auf eine weniger stressige Art und Weise erreichen. Emotionale Eskalationen wie gestern Abend wirken sich auf das Nervensystem des Kindes negativ aus, auf seinen Appetit und seine Verdauung, vielleicht auch auf seinen Schlaf und sogar auf deine sehr gute Beziehung zu ihm. Als Lukas anschließend bei Tisch sagte, er würde nichts essen, war das für mich sehr beunruhigend. Wenn er "Hungerstreik" als Mittel benutzt, um zu protestieren, zeigt das wirklich, wie verzweifelt er war. Bitte lass es nicht zu einem Muster werden! Eine stressige Atmosphäre während der Mahlzeiten schränkt den Appetit ein und kann auf lange Sicht Magengeschwüre verursachen.

Bitte betrachte die Situation deines Sohnes als Ganzes.

Lukas kam ziemlich spät von der Schule (Vorschulklasse) und den außerschulischen Aktivitäten nach Hause, 17:30 Uhr an diesem Tag. Er war müde und hungrig. Wie wir aus den Rückmeldungen wissen, ist er ein ausgezeichneter Schüler, der von seiner Klasse und seinen Spielkameraden gut angenommen wird. Er erbringt beste intellektuelle und körperliche Leistungen, hat Spaß dabei und benimmt sich den ganzen Tag über gut. Er hat ein bemerkenswertes Maß an Selbstbeherrschung, obwohl er von Natur aus ein sehr lebhaftes und emotionales Kind ist. Wenn er nach Hause kommt, muss viel Stress abgebaut werden und ich schätze es, dass du ihn immer herzlich begrüßt und fragst, wie sein Tag war, und er reagiert darauf sehr offen.

Aber bitte habe Verständnis,

dass er sich nicht immer wunschgemäß höflich verhalten kann. Diesmal war es gegen mich. Bei mir kann er es sich erlauben, denn ich bin eine Person, mit der er sehr vertraut ist, da ist kein perfektes Benehmen erforderlich. Ich nehme es sogar als Vertrauensbeweis, dass er sich keinen Zwang antut. Selbstverständlich bedanke ich mich für deine Unterstützung, wenn du ihn in angemessener Weise zurecht weist.

Eine Auszeit kann als Verbannung empfunden werden.

Ein Kind in sein Zimmer zu schicken, um sich zu beruhigen, hat nicht immer die Wirkung, die man sich wünscht. Vor allem dann, wenn man es wiederholt macht. Seine Gefühle der Frustration können sich sogar verstärken, weil er sich zu hart, missverstanden, unfair und gedemütigt behandelt fühlt.  Er fühlte sich dir gegenüber hilflos und schwach. Dies war offensichtlich der Fall, weil er sich später weigerte, zu essen, als das Abendessen serviert wurde.

Empfehlungen:

Wenn sich ein Kind schlecht benimmt, und wenn du die ganze Situation im Hinterkopf hast, könntest du ein kleines Fehlverhalten einfach ignorieren oder ihm sanft etwas sagen wie: "Sei nicht unhöflich zu Oma nicht, wenn sie dir helfen will." Aber mach es nicht zu einer Lektion, denn genau das war es, was Lukas verärgert hat. Das Kind kann sich nicht entsprechend artikulieren, also reagiert es mit Geschrei.

Raunzen und weinerlicher Tonfall abstellen

Die andere Sache, die du missbilligt hast, war sein weinerlicher Tonfall, als er nach mehr Essen fragte. Warum, glaubst du, schlägt Lukas manchmal einen weinerlichen Ton an? Wahrscheinlich wegen mangelndem Selbstvertrauen oder sogar Angst vor dir. Das kommt aus dem Unbewussten, nicht aus Absicht. Ein sanfter Weg, ihn dazu zu bringen, mit dieser Art aufzuhören, könnte sein, ihm zu sagen: "Atme tief durch und sag es laut und klar noch einmal". Aber gib ihm keine Belehrung wie "Warum sollte ich jemandem, der sich nicht gut benimmt und der nicht ordentlich fragen kann, geben, was er will?" Das war zu viel für Lukas. Er rannte schreiend davon.

Der unbeteiligte Elternteil kann helfen, um Kinder wieder „herunter“ zu holen

Als seine Mutter kam, wollte sie natürlich Hallo sagen und ihn trösten. Du hättest zustimmen sollen. Sie hätte dich nicht missbilligt (zumindest nicht vor dem Kind), aber emotionaler Trost hätte Lukas geholfen, seine Krise zu überwinden. Das ist eine Strategie, die sogar sehr ratsam ist, wenn Kinder mit dem einen oder anderen Elternteil gerade Stress haben, sofern sie den anderen nicht diskreditieren.

Zur Ankündigung des Hungerstreiks: Lasst es nicht so weit kommen! Lass nicht zu, dass kleine Irritationen so starke negative Gefühle auslösen. Sie könnten deine kostbare und außergewöhnlich gute Vater-Sohn-Beziehung verschlechtern und neue und ernsthaftere Probleme verursachen.

Nachbesprechung:

Noch eine Empfehlung, von der ich denke, dass du sie bereits sehr oft anwendest: Nach dem Abendessen oder vor dem Schlafengehen, wenn die Emotionen heruntergekommen sind, könnte man Lukas bitten, auf seinen Tag zurückzublicken. Was war gut? Wofür ist er dankbar? Was war schmerzhaft für ihn und was könnte er besser machen? Du könntest seine unfreundliche Reaktion zu Oma erwähnen. Er wird leise zustimmen, und du könntest einfühlsam sagen: "Ok, das nächste Mal wirst du es besser machen." Umarmung und gute Nacht.

Lieber Paul,

Danke, dass du diesen Brief bis zu Ende gelesen hast, obwohl er Kritik und Anleitungen enthielt, die bei dir vielleicht ein gewisses Unbehagen ausgelöst haben, weil sie sich belehrend angefühlt haben mögen. Genau so erging es auch Lukas. Bitte fühl dich nicht beleidigt, sondern spüre meine Liebe und Wertschätzung für dich hinter meinen Worten. Ich schrieb aus meinem Herzen heraus, Lukas zuliebe und um die gute Beziehung aufrechtzuerhalten, die du zu deinem Sohn hast.

In Liebe und Respekt,

Renate

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Ein Artikel von

Portraitfoto Maria Neuberger-Schmidt

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