Ein Plädoyer für das Huhn

Mein Sohn war vier Jahre alt, als er zum ersten Mal abhaute. Still und heimlich machte er sich auf den Weg. Ich war mit seinem kleinen Bruder beschäftigt, er spielte im Sandkasten und baute ein Gehege für seine Playmobil-Tiere. Dachte ich. Aber ich dachte falsch.

Der Bergbauernhof, auf dem wir zu dieser Zeit lebten, war umgeben von Wiesen und weiteren Höfen. Zäune gab es nicht.

Wonach sucht man, wenn man die Spur eines Vierjährigen verfolgen möchte, der sich in Luft aufgelöst zu haben scheint?

Ich lauschte. Nichts. Ich hörte das leise Gackern des Nachbars Hühner und hin und wieder eine Kuh, die in der Nähe graste.  Endlich sah ich ihn! Hunderte Meter entfernt kam er langsam über ein großes Feld auf mich zu. Er hielt ganz behutsam aber fest etwas in seinen Händen. Die Sonne blendete mich, ich konnte es nicht erkennen.

Wo kam der kleine Kerl bloß her?

„Es wollte zu mir“, sagte er bloß, als er mich bemerkte. Er setzte das braune Huhn auf einen großen Stein und streichelte es lange und liebevoll.  Das Huhn hielt still. Was hat der Junge bloß mit seinen Hühnern, fragte ich mich damals und versuchte zu begreifen, was so ein Federvieh in so einem kleinen Geschöpf auslösen mochte.

Diese Geschichte ist mittlerweile fast zehn Jahre her und es hat fast ebenso lange gedauert, bis ich meinen Sohn verstand.

Wir konnten damals an keinem Huhn vorbeifahren, ohne ein verzücktes „Schaut, ein Huhn!“ vom Rücksitz zu vernehmen, an keinem Huhn konnten wir vorbeigehen, ohne dass wir anhalten mussten um es zu betrachten, anzulocken und zu füttern. Zu diesem Zweck hatte mein Sohn in jeder Tasche seiner Garderobe diverses Futter für Hühner verstaut. Er hatte immer etwas dabei, das er ihnen anbieten konnte: Brotstücke, Körner, Getreide sowie stinkende Mehlwürmer und alten Reis.
Einwände verhallten ungerührt. „Sicher lässt es sich anlocken und füttern!“

Es gab tatsächlich kaum ein Huhn, das er nicht einfangen konnte.

„Dann wasche ich mir eben gleich die Hände“, sagte er bloß, wenn ihm wieder einmal jemand erklärte, dass Hühner keine Haustiere sind, nicht gestreichelt werden wollen und Milben haben. Etwas unbeholfen nahmen wir Eltern das Bedürfnis nach Huhn-Nähe unseres Kindes zur Kenntnis, dachten, es würde sich legen. Immerhin hatte er seine ersten Lebensjahre inmitten von Tieren verbracht. Nun wohnten wir in der Stadt und Tiere waren nicht mehr täglich in Sicht- und Reichweite.

Als wir schließlich im Zoo einen kompletten Nachmittag damit verbrachten, auf den Sohn zu warten, der immer und immer wieder „nur noch kurz“ die Hühner anlocken wollte und sich standhaft weigerte, auch nur einen Schritt weiter zu gehen, verstand ich plötzlich.

Das war nicht nur eine Liebelei, es war ein dringender Wunsch nach einem Tier. Und es musste ein Huhn sein.

Die Konsequenz der Erkenntnis dauerte ein paar Wochen und darauf folgten einige weitere Wochen der Recherche über diese Tiere. Hühner sind Herdentiere und müssen mindestens zu dritt gehalten werden. Sie müssen vor Füchsen, dem Adler und Mardern nachts geschützt werden. Sie machen Dreck, trinken viel und fressen so gut wie alles. Sie legen Eier. So weit, so klar.

Ein Huhn muss her

Ich fühlte mich bereit, meinem Sohn bei dieser für ihn so wichtigen Erfahrung, Hühner zu halten, beizustehen. Tierlieb war ich immer schon, als Kind ging ich ebenfalls an kaum einem Tier achtlos vorbei. Jedoch mit Hühnern, da war ich nicht so. Federvieh im Allgemeinen ist nicht so mein Ding. Dachte ich. Aber ich dachte falsch.

Die Verzückung unseres Sohnes, als wir Anfang der Osterferien letzten Jahres einen Hendlbauern mit drei Junghühnern verließen, war unfassbar.

Er stellte die Transportbox im Auto neben sich, eine Hand darauf, eine darin. Leise unterhielt er sich mit seinen Hühnern, erklärte ihnen alles, was sie wissen mussten. Kaum im neuen Stall, machten sie jedoch keine Anstalten, diesen zu verlassen. Starr und steif saßen sie da. „Gib ihnen Zeit um sich einzugewöhnen“, forderten wir unseren Jungen auf, der fast wie ein weiteres Huhn im Freilaufgehege des Stalls hockte. Er lockte und lockte, erzählte und sang, bot Futter an und lockte wieder.

Es dauerte drei lange Tage, bis die Tiere ihren Stall verließen. Es brauchte viele weitere Stunden, bis die drei Damen, wie wir sie nannten, scharrten und pickten, wie es Hühner nun mal so gerne tun. Die Ausdauer unseres Sohnes machte sich bezahlt.

Die Hühner entwickelten sich prächtig. Wir alle gewannen sie lieb.

Es schmeichelt uns, wenn sie angelaufen kommen, sobald sie jemanden von uns sehen oder hören. Sind wir im Garten, sind sie nah bei uns. Rufen wir nach ihnen, antworten sie. Reden wir mit ihnen, halten sie den Kopf schief, um uns aus einem Auge zu betrachten.

Egal wohin ich gehe, sie gehen mit

Wenn ich meine Gartenarbeit verrichte, bin ich nicht allein. Egal wohin ich gehe, sie gehen mit mir. Sogar der Gang zum Komposthaufen macht nun Spaß. Flankiert von drei Hühnern, die einem ums Bein tänzeln, gleicht der Gang dem eines Hindernisparcours, will man ja auf keinen Fall unbedacht einem Hühnchen aufs Füßchen treten. Sie hopsen und flattern, tänzeln und rufen verzückt, da sie ganz genau wissen, dass der Kompost für sie bestimmt ist.

Jede meiner Bewegungen im Garten wird verfolgt – sie kennen mich und ich verstehe sie.

Schnell habe ich kapiert, dass ich Blumentöpfe nicht einfach achtlos hochheben und wegtragen darf. Darunter verstecken sich die besten Leckerbissen und ein bisschen mehr Achtsamkeit bei der Arbeit schadet ganz und gar nicht! Also: Gartenhandschuhe angezogen, nach den Hühnern gerufen – „Medis!“ Und schon läuft alles wie einstudiert. Ich hebe das Objekt sanft aber zügig ein wenig an, die Gurr- und Gackerlaute verraten mir, ob die drei Damen erfolgreich waren. Regenwürmer, Larven und alles was kreucht und fleucht sind beliebte Delikatessen.

Mittlerweile kenne ich ihre Rufe und Laute und bin erstaunt wie vielfältig diese sind. Sie glucksen verzückt, wenn der Regenwurm, den sie in Windeseile und mit der Zielgenauigkeit eines Adlers aus der Erde ziehen, besonders groß ist. Sie beschweren sich, wenn sie in ihrem Gehege bleiben müssen, die Familie aber im Garten zu sehen ist. Sie betteln, weinen, rufen und jubeln. Ich kenne alle ihre Laute. 

Sie streiten, teilen, pecken und granteln miteinander um die Wette.

Seit unsere Hühner unseren Garten beleben, sind wir nicht mehr der Nachbarskatzen Klo, seit wir Hühner haben, war der Garten noch nie so abgenutzt. Seit wir Hühner haben, weiß ich, wie viel Dreck so ein kleines Tier machen kann und warum die meisten von ihnen in hermetisch abgeriegelten Zaunfestungen leben.

Und ich weiß, warum so viele Menschen von ihnen begeistert sind.

Ob die Hühner eh nicht zu laut sind, fragte ich meine Nachbarin besorgt. „Oh nein, ich liebe es, euer Lachen zu hören!“, war die Antwort, und als ich zustimmend meinte: ja, die Kinder haben viel Freude mit ihnen, schüttelte sie grinsend den Kopf.

Nein, dein Lachen meine ich! Wenn du im Garten stehst, rund um dich die drei Hendln und dein Lachen schallt zu uns herüber, dann freut mich das.

Warum steht sie im Garten und lacht, fragt sich jetzt wahrscheinlich jeder Leser. Das ist ganz einfach - Hühner sind langweilige Tiere. Dachte ich. Aber ich dachte falsch.

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