„Kinder müssen weinen dürfen“

Vor einigen Wochen wurde ich zu einem Vortrag eingeladen, der unter dem Motto „Weinen, toben, traurig sein: Über den Umgang mit heftigen Emotionen“ stand.

Wie immer suchte ich mir zuvor Informationen über die vortragende Person im Internet heraus. Für mich fällt nämlich die Entscheidung mir einen Vortrag anzuhören damit zusammen, ob mich der Vortragende mit seinen Themen, Einstellungen und Ansichten anspricht (oder eben nicht). In diesem Fall sprach mich die Vortragende Antonia Stängel aus Pottenbrunn sehr an.

Ihrer Homepage entnahm ich folgende Informationen über ihre Person: Diplompädagogin, Montessoripädagogin, NLP Trainerin, Fortbildungen am Emmi Pikler Institut, Ausbildung in systemischer Aufstellungsarbeit, lernende Mutter von zwei Töchtern und zwei Söhnen. Ich entschied also zur Veranstaltung zu gehen und ich muss sagen, ich bin sehr froh, dort gewesen zu sein. Es gab einige „Aha-Momente“ für mich, weshalb ich diese auch an euch – mit Erlaubnis von Antonia – weitergeben möchte.

Auch glückliche Kinder weinen

Mein erster „Aha-Moment“ kam gleich zu Beginn des Vortrages: Antonia sprach davon, dass viele Eltern von der Haltung ausgingen, dass zufriedene und glückliche Babys und Kinder nicht weinen. Ich fühlte mich „ertappt“ – Ja, mein Partner Clemens und ich gingen bei unseren zwei Töchtern wirklich von dem Motto aus: „Je weniger Tränen, desto glücklicher die Mädels….“.

Ich hatte zugegebenermaßen immer das Gefühl, wenn ich es als Mutter nicht schaffe, meine Kinder sofort zu beruhigen, nicht gut genug für sie zu sein und zu versagen. Vor allem bei unserer älteren Tochter, die unter starken Koliken die ersten drei Monate litt und ein richtiges „Schreibaby“ war, waren diese Versagensgefühle sehr groß. Wie wohltuend erlebte ich daher die Aussage von Antonia, dass glückliche Kinder weinen, schreien, toben und dies sogar wichtig für sie sei. Sie spitzte es in dem Satz zusammen „Kinder müssen weinen dürfen!“

Sie erklärte uns, dass Weinen von Geburt an eine spannungslösende Funktion inne habe und dass es daher wichtig sei, Babys und Kindern einen Platz zu geben, wo alle Gefühle erlebt werden dürfen.

Tränen wirken entgiftend und befreiend auf den Körper und so können Kinder vom Zustand der Anspannung zur Entspannung gelangen.

Kann das Kind diese Gefühle nicht ausleben, so baut sich innerlich immer mehr Spannung auf, worunter unter anderem ein guter Schlaf und intensives Spielen leiden können. Zudem besteht die „Gefahr“, dass zurückgehaltene Emotionen sich aufstauen und Jahre später heraus brechen können. Das bedeutet, es kann passieren, dass ein pubertierender Jugendlicher mit den Gefühlen seines zweijährigen Ichs konfrontiert wird und damit nicht umzugehen weiß.

Antonia sprach davon, dass schon Babys viel zu verarbeiten haben – immerhin haben sie bereits eine Schwangerschaft (wo sie viel von der Gefühlswelt der Mutter mitbekommen) und eine Geburt hinter sich. War die Geburt für Mutter und Kind anstrengend, so kann es sein, dass das Baby dies durch Weinen verarbeitet. Viele Kinder verarbeiten durch das Weinen zudem alltägliche Erfahrungen.

Mutter hält Tochter in die Höhe

Die Aufgabe der Eltern

Antonia wies uns darauf hin, dass es die Aufgabe von uns Eltern sei, die Kinder bei der Verarbeitung ihrer Gefühle zu begleiten. Auf die Nachfrage hin, was „begleiten“ denn genau bedeutet, meinte sie, „Es gemeinsam mit den Kindern auszusitzen.“

Kinder sind noch nicht in der Lage alleine mit ihren Gefühlen umzugehen und brauchen daher eine Vertrauensperson, die ihnen in dieser Situation Sicherheit vermittelt. Antonia betonte, wie wichtig die Erfahrung für Kinder wäre, sich bei einer Person bis auf’s Äußerste fallen lassen zu können. Dadurch erleben sie, dass sie mit all ihren Facetten angenommen sind. Daher kann es auch wichtig sein, dass Väter Wein- und Trotzphasen mit ihren Kindern durchleben. So kann sich eine sichere, feste Beziehung aufbauen. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass dieses gemeinsame „Aussitzen“ ein „Zuckerschlecken“ ist.

Weinen ruft oftmals den Reflex des Mitweinens hervor und es kann leicht sein, dass man als Mama oder Papa einfach nur mitweinen muss.

Hält man das Weinen des Kindes überhaupt nicht aus kann es außerdem sein, dass sich ein eigener unverarbeiteter Schmerz meldet. Der darf dann ebenso bei den „Großen“ verarbeitet werden. Diese Information von Antonia löste den nächsten „Aha-Moment“ aus. Mir wurde bewusst, weshalb unsere große Tochter das Weinen von der Kleinen so schlecht aushielt. Es kam oft vor, wenn Anna weinte, dass Valerie rief: „Mama, jetzt tu doch etwas, damit sie endlich aufhört zu weinen. Ich kann sie nicht weinen hören!“.

Antonia gab mir den Tipp mit Valerie zu sprechen und ihr die Möglichkeit aufzuzeigen, dass sie sich ebenfalls bei uns ausweinen könne. Es dauerte wirklich nur wenige Tage bis sie schließlich eine Situation fand, an der wir Erwachsenen ihrer Meinung nach ungerecht waren und sie ihren Tränen einfach nur freien Lauf ließ. Danach schlief sie völlig erschöpft, aber merklich erleichtert ein. Am nächsten Tag wirkte Valerie sehr ausgeglichen.

Phase der Willensentwicklung

Antonia bevorzugt anstatt der gängigen Bezeichnung der „Trotzphase“ den Ausdruck „Phase der Willensentwicklung“, da Kindern in diesem Lebensabschnitt (meist im Alter von zwei Jahren) bewusst wird, dass sie einen eigenen Willen besitzen. Befindet sich ein Mädchen oder Junge gerade in der Phase der Willensentwicklung kann sich das gemeinsame Aussitzen als eine noch größere Herausforderung erweisen. Denn in dieser Phase ist es entwicklungsmäßig gesehen völlig „normal“, wenn ein Kind her schlägt, beißt oder zwickt.
Oh, was kann ich darüber für ein Lied singen – Valerie war ein „Trotzkopf“ wie es im Bilderbuche steht und hat mir oft einen Klapps verpasst, wenn sie wütend und trotzig war.

Oftmals kochte ich ebenfalls vor Ärger und schimpfte nur mehr mit ihr herum. In solchen Situationen kann es laut Antonia hilfreich sein, wenn man das Kind gerade so leicht hält, dass es sich selbst und niemand anderen mehr verletzen kann. Danach heißt es zu warten, bis es sich beruhigt. Wichtig war Antonia darauf hinzuweisen, dass Halten jedoch keine Erziehungsmaßnahme sei, mit welcher die Eltern den Kindern ihren Willen aufzwingen, sondern dass das Halten wirklich nur Verletzungen abhält und dem Kind zugleich Nähe gibt.

Dabei könne man dem Nachwuchs mit ruhiger Stimme immer wieder sagen, dass man wisse, dass er sich jetzt furchtbar ärgern muss. Dadurch vermittle man die Botschaft „Ich sehe, dass du wütend und traurig bist und ich lasse dich damit nicht alleine.“ Sie betonte, je ruhiger und selbstbewusster die Eltern seien, umso mehr Sicherheit würden sie auf das Kind ausstrahlen.

Je größer die Kinder werden, desto wichtiger wird es zudem, sich nach einem Wutanfall gemeinsam mit ihnen zusammen zu setzen und diesen zu besprechen. Man kann seinen Nachwuchs Möglichkeiten aufzeigen, wie es mit seinen Gefühlen in solchen Situationen umgehen kann, wie zum Beispiel in ein Kissen zu schreien oder in eine Decke zu boxen. Dadurch kann es lernen, wie es mit seinen starken Gefühlen umgehen kann. Unsere Valerie schreit mit ihren acht Jahren am liebsten in ihren Kopfpolster, wenn sie mal zornig ist. Oft endet ihr Gekreische dann sogar in einem Lachanfall. Außerdem malt sie sehr gerne und lässt sie ihren Zorn ebenso in Bildern aus. Sie nimmt ihre Stifte und lässt sie wild über das Papier sausen, bis es löchrig wird. Ab und zu zerreißt sie dann das Papier noch in viele kleine Schnipsel.

Wer mehr über das Thema „Umgang mit starken kindlichen Gefühlen“ von Antonia Stängel erfahren möchte, kann ihre Homepage besuchen. Dort befinden sich einige Artikel von ihr. Zudem bietet sie Elterncoaching, SpielRaumtreffen nach Emmi Pikler an und kann weiters für Vorträge und Workshops gebucht werden.

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